Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Frau und das kleine Pelztier umgeben, und die Vorstellung, ein anderer, ein wacher Mensch könne dieses Traumlicht sehen, war bar jeder Vernunft. Doch wo sollte der Bursche eine solche Idee herhaben? War Gilman im Schlaf nicht nur durchs Haus gegangen, sondern hatte er dabei etwa auch geredet? Nein, sagte Joe, das habe er nicht – aber Gilman musste dieser Sache nachgehen. Vielleicht würde Frank Elwood ihm etwas sagen können, auch wenn er ihn nur äußerst ungern fragte.
Fieber – wilde Träume – Schlafwandeln – eingebildete Geräusche – ein zwanghaftes Hindrängen zu einem Fleck am Himmel – und nun auch noch der Verdacht, dass er im Schlaf wirres Zeug redete! Er musste sein Studium unterbrechen, einen Nervenspezialisten aufsuchen und die Sache in Ordnung bringen. Er ging hinauf ins zweite Stockwerk und blieb vor Elwoods Tür stehen, sah aber, dass der junge Mann ausgegangen war. Zögernd setzte er den Weg in sein Mansardenzimmer fort und nahm Platz in der Dunkelheit. Seinen Blick zog es immer noch nach Süden, zudem horchte er angestrengt auf mögliche Geräusche aus der versiegelten Kammer über ihm; halb bildete er sich ein, durch einen winzig kleinen Riss in der niedrigen, schrägen Decke dringe bedrohliches violettes Licht.
Als Gilman in dieser Nacht schlief, erstrahlte das violette Licht in ungekannter Stärke, die alte Hexe und das kleine Pelzwesen kamen ihm so nahe wie nie zuvor und quälten ihn mit unmenschlichem Gekreisch und teuflischen Gesten. Er war froh, als er in die von undeutlichem Brüllen erfüllten Dämmerschlünde versank, aber auch hier empfand er die Nähe der schimmernden Blasenmasse und des kleinen kaleidoskopischen Polyeders als bedrohlich und irritierend. Dann kam der Wandel: Gewaltige konvergente Ebenen aus einer glitschig aussehenden Substanz bauten sich über und unter ihm auf – und dieser Wandel endete in einem blitzartigen Delirium und einem Aufflackern von unbekanntem, fremdartigem Licht, in dem sich Gelb, Karminrot und Indigoblau auf verrückte, unentwirrbare Weise vermischten.
Er lag auf einer hohen, von wunderbaren Balustraden umgebenen Terrasse über einem grenzenlosen Dschungel aus fremdartigen, unglaublichen Hügeln, gleichmäßigen Ebenen, Kuppeln, Minaretten, waagerechten Scheiben auf Turmspitzen und zahllosen noch fantastischeren Formen – teils aus Stein und teils aus Metall –, die unter dem fast schmerzhaften Licht eines vielfarbigen Himmels märchenhaft funkelten. Als er nach oben blickte, sah er drei gewaltige Flammenscheiben in unterschiedlichen Farben, die sich jeweils unterschiedlich hoch über einem unendlich fernen Horizont niedriger Gebirge erhoben. Hinter ihm erstreckten sich übereinander liegende Terrassen, so weit das Auge reichte. Auch die Stadt unter ihm schien grenzenlos zu sein, und er hoffte, dass sich aus ihr kein Geräusch erheben würde.
Das Pflaster, von dem er sich mühelos erhob, bestand aus einem geäderten, polierten Gestein, das ihm unbekannt war, und die einzelnen Pflastersteine waren in merkwürdigen Winkeln zurechtgeschnitten, die ihm weniger asymmetrisch vorkamen als vielmehr im Einklang mit einer unirdischen Symmetrie zu stehen schienen, deren Gesetze er nicht zu erfassen vermochte. Die Balustrade reichte ihm bis zur Brust, war fein und fantastisch gearbeitet; entlang des Geländers befanden sich in regelmäßigen Abständen kleine Figuren von grotesker Gestalt und erlesener Kunstfertigkeit. Wie die gesamte Balustrade schienen auch sie aus einer Art von glänzendem Metall gefertigt, dessen Farbe man bei all dem chaotischen, verschiedenartigen Glanz nicht bestimmen konnte, und über das, was die Figuren eigentlich darstellen sollten, vermochte er bloß Mutmaßungen anzustellen. Es handelte sich um gefurchte, zylinderförmige Objekte; von einem Ring in der Mitte strahlten dünne, waagerechte Arme wie Sprossen aus, und aus den oberen und unteren Enden des Zylinders wuchsen senkrecht so etwas wie Knäufe oder Knollen. Jede dieser Knollen bildete die Nabe eines Systems aus fünf langen, flachen, in dreieckigen Spitzen endenden Gliedmaßen, die wie die Arme eines Seesterns angeordnet waren – beinahe horizontal, aber mit leichter Krümmung zum zentralen Zylinder hin. Die Knolle am unteren Ende war so fragil an dem langen Geländer befestigt, dass mehrere der Figuren abgebrochen waren und fehlten. Die Figuren waren vielleicht je zwölf Zentimeter groß, während die stachelähnlichen Arme einen Radius von ungefähr sieben
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