Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
scheußliche kleine Pelzwesen mit den gelben Reißzähnen und dem bärtigen Menschengesicht kletterte.
Die boshaft grinsende Alte hielt ihn noch immer fest, und hinter dem Tisch stand eine Gestalt, die er noch nie zuvor gesehen hatte – ein großer, schlanker Mann von pechschwarzer Hautfarbe, aber ohne die geringste Spur negroider Physiognomie. Er hatte weder Haare noch Bart, und sein einziges Kleidungsstück war eine unförmige Robe aus schwerem schwarzen Tuch. Wegen des Tisches und der Bank waren die Füße des Mannes nicht sichtbar, doch er musste Schuhe tragen, weil bei jeder seiner Bewegungen ein klackendes Geräusch zu hören war. Der Mann sprach kein Wort, und seine feinen, regelmäßigen Gesichtszüge verrieten keinerlei Gemütsregung. Er wies lediglich auf ein Buch von erstaunlicher Größe, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag, während die Alte Gilman eine große graue Schreibfeder in die rechte Hand drückte. Über allem lag der Schleier ständig steigender Angst, und der Höhepunkt war erreicht, als das Pelzwesen die Kleider des Träumers bis zu seiner Schulter hinaufkletterte und dann den linken Arm hinunterkroch, um ihm schließlich heftig ins Handgelenk zu beißen. Als das Blut aus der Wunde sprudelte, fiel Gilman in Ohnmacht.
Am Morgen des 22. April erwachte er mit Schmerzen im linken Handgelenk, und er bemerkte, dass an dem Ärmel seines Schlafanzugs braune Flecken von getrocknetem Blut waren. Seine Erinnerungen waren sehr wirr, doch die Szene mit dem schwarzen Mann in dem unbekannten Raum stand ihm lebhaft vor Augen. Die Ratten mussten ihn im Schlaf gebissen und so den Höhepunkt des entsetzlichen Traumes verursacht haben. Er öffnete die Tür und sah, dass das Mehl auf dem Boden des Korridors unberührt war – mit Ausnahme der großen Fußspuren des flegelhaften Burschen, der am anderen Ende der Mansarde ein Zimmer bewohnte. Also hatte er diese Nacht nicht schlafgewandelt. Aber irgendetwas musste gegen die Ratten unternommen werden. Er würde mit dem Hauswirt über die Angelegenheit sprechen. Erneut versuchte er, das Loch in der schrägen Wand zu stopfen, dieses Mal mit einem Kerzenleuchter, der ungefähr die passende Größe dafür besaß. Seine Ohren dröhnten schrecklich, als hallten in ihnen die grässlichen Geräusche seiner Träume wider.
Während er sich wusch und anzog, versuchte er, sich daran zu erinnern, was er nach der Szene in dem violett erleuchteten Raum geträumt hatte, doch nichts Bestimmtes wollte ihm einfallen. Die Szene musste etwas mit der verschlossenen Dachkammer über ihm zu tun haben, die seine Fantasie so intensiv beschäftigte, aber spätere Traumbilder blieben unklar und schemenhaft. Es gab Andeutungen der vagen Dämmerschluchten und von noch größeren, noch schwärzeren Abgründen jenseits davon – Abgründe, in denen noch nicht einmal undeutliche Anhaltspunkte existierten. Die Blasenmasse und das kleine Polyeder, die ihn immer verfolgten, hatten ihn dorthin gebracht; gleich ihm hatten sie sich jedoch in diesen entlegensten Schluchten tiefster Schwärze in Nebel verwandelt. Etwas anderes war ihm vorangegangen – eine größere Nebelschwade, die sich dann und wann zu der Andeutung einer unbeschreiblichen Gestalt verdichtete –, und er glaubte, ihre Fortbewegung sei nicht geradlinig verlaufen, sondern in fremdartigen Winkeln und Spiralen eines ätherischen Strudels, der Gesetzen gehorchte, die der Physik und Mathematik in jeglichem Kosmos fremd waren. Schließlich hatte er undeutlich einen riesenhaften, springenden Schatten wahrgenommen, das monströse, halb akustische Pulsieren des dünnen, eintönigen Spiels einer unsichtbaren Flöte – aber das war alles. Gilman vermutete, dass diese letzte Vorstellung auf dem beruhte, was er im Necronomicon über die geistlose Wesenheit Azathoth gelesen hatte, die auf einem schwarzen Thron inmitten des Chaos über alle Zeit und allen Raum herrscht.
Als er das Blut abgewaschen hatte, stellte sich die Wunde am Handgelenk als geringfügig heraus, und Gilman rätselte über die beiden winzigen Einstiche. Er bemerkte, dass auf dem Bettlaken, auf dem er geschlafen hatte, keine Blutflecken zu sehen waren – was äußerst merkwürdig war angesichts der großen Flecken, die sich auf seiner Haut und dem Ärmel befunden hatten. Hatte er in seinem Zimmer geschlafwandelt, hatte er sich auf einem Stuhl oder einer weniger bequemen Sitzgelegenheit niedergelassen und war dort von der Ratte gebissen worden? Er suchte jeden Winkel nach
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