Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)

Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)

Titel: Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
Vom Netzwerk:
Zentimetern beschrieben.
    Als Gilman aufstand, fühlten sich die Pflastersteine unter seinen bloßen Füßen heiß an. Er war völlig allein, und als Erstes ging er zur Balustrade und spähte wie benommen hinab auf die endlose, zyklopische Stadt, die fast sechshundert Meter unter ihm lag. Er horchte und glaubte, ein rhythmisches Klanggewirr leiser Pfeiftöne zu vernehmen, die aus den engen Straßen dort unten zu ihm aufstiegen und ein breites Tonspektrum abdeckten; er bemühte sich, die Bewohner dieses Ortes erkennen zu können. Nach einer Weile machte ihn der Anblick schwindelig, und er wäre zu Boden gestürzt, hätte er sich nicht instinktiv an der prachtvollen Balustrade festgehalten. Mit der rechten Hand griff er nach einer der emporragenden Figuren, und er konnte sich ein wenig aufrichten. Für die unglaublich fein gearbeitete Metallfigur war dies jedoch zu viel, das stachelige Gebilde brach in seiner Hand ab. Er war noch immer halb benommen und hielt es weiterhin fest, während er mit der anderen Hand das glatte Geländer umfasste.
    Aber dann bemerkte sein überempfindliches Gehör irgendetwas hinter ihm, und er warf einen Blick zurück auf die flache Terrasse. Leise, aber anscheinend nicht verstohlen näherten sich ihm fünf Gestalten, darunter die unheimliche alte Frau und das kleine Pelztier mit den spitzen Zähnen. Die anderen drei raubten ihm die Besinnung, denn es waren Lebewesen von über zwei Metern Höhe, die genau wie die stacheligen Figuren auf der Balustrade geformt waren und sich spinnenartig auf ihren unteren Seesternarmen fortbewegten.
    Gilman erwachte in kalten Schweiß gebadet in seinem Bett; Gesicht, Hände und Füße fühlten sich an wie verbrannt. Er sprang auf, wusch und kleidete sich in panischer Hast an, als müsse er das Haus so schnell wie nur möglich verlassen. Er wusste nicht, wohin er gehen wollte, doch ihm war klar, dass er seine Vorlesungen erneut opfern musste. Der sonderbare Drang hin zu dem Fleck am Himmel zwischen der Hydra und dem Schiff Argo hatte nachgelassen, war aber durch eine noch stärkere Anziehung ersetzt worden: Nun hatte er das Gefühl, nach Norden gehen zu müssen – unendlich weit nach Norden. Er fürchtete sich davor, die Brücke zu überqueren, von der aus er die verlassene Insel im Miskatonic sehen konnte, und entschied sich deshalb für die Brücke in der Peabody Avenue. Er stolperte oft, weil seine Augen und Ohren fest auf einen äußerst fernen Punkt am wolkenlosen blauen Himmel gerichtet waren.
    Nach gut einer Stunde bekam er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle und sah, dass er die Stadt weit hinter sich gelassen hatte. Überall ringsum erstreckte sich die unwirtliche Öde der Salzsümpfe, und der schmale Weg vor ihm führte nach Innsmouth – jene uralte, halb verlassene Stadt, die die Bewohner Arkhams nur überaus ungern besuchen. Obwohl der Drang, nach Norden zu gehen, nicht nachgelassen hatte, widerstand er ihm wie schon dem früheren Zwang; schließlich bemerkte er, dass er den einen mit dem anderen beinahe neutralisieren konnte. Er trottete zurück in die Stadt und trank in einer Gaststätte einen Kaffee, ehe er sich in die Leihbücherei quälte und unkonzentriert in anspruchslosen Zeitschriften herumblätterte. Einmal begegnete er ein paar Freunden, die ihm sagten, er sähe aus, als hätte er einen Sonnenbrand erlitten, doch er sagte ihnen nichts von seinem unfreiwilligen Spaziergang. Um drei Uhr nachmittags nahm er in einem Restaurant sein Mittagessen ein, und dort fiel ihm auf, dass der Drang entweder nachgelassen hatte oder verflogen war. Danach schlug er die Zeit in einem billigen Filmtheater tot, wo er sich die alberne Aufführung wieder und wieder ansah, ohne ihr Aufmerksamkeit zu schenken.
    Gegen neun Uhr abends begab er sich auf den Heimweg und schlurfte zu dem alten Haus zurück. Joe Mazurewicz winselte seine unverständlichen Gebete, und Gilman eilte in sein Mansardenzimmer hinauf, ohne nachzusehen, ob Elwood zu Hause war. Als er das schwache elektrische Licht anschaltete, kam der Schock. Er sah sofort, dass sich auf dem Tisch etwas befand, das nicht dorthin gehörte, und ein zweiter Blick beseitigte jeglichen Zweifel. Sie lag auf der Seite, weil sie von alleine nicht aufrecht stehen konnte – die exotische stachelige Figur, die er in seinem ungeheuerlichen Traum von der fantastischen Balustrade abgebrochen hatte. Keine Einzelheit fehlte: Das gefurchte, zylinderförmige Mittelstück, die dünnen, waagerecht ausstrahlenden Arme,

Weitere Kostenlose Bücher