Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
außer an besonders interessanten oder schwierigen Stellen. Ohne eine Lichtquelle vermochten wir, in diesen zyklopischen Katakomben nicht voranzukommen; falls wir also den Abstieg noch wagen wollten, mussten wir mit der weiteren Entschlüsselung der Mauerreliefs aufhören. Natürlich wollten wir den Ort erneut aufsuchen, um dort tage-, vielleicht sogar wochenlang eingehend zu forschen und zu fotografieren – längst hatte Neugier unser Grauen verdrängt –, doch jetzt mussten wir uns beeilen.
Unser Vorrat an Papierschnitzeln zum Spurenlegen war nicht unerschöpflich und es widerstrebte uns, ihn auf Kosten übriger Notizbücher aufzufüllen, dennoch opferten wir ein großes Notizbuch für diesen Zweck. Sollte das nicht ausreichen, konnten wir ja noch durch Einkerben die Felsen markieren – und falls wir uns tatsächlich verirrten, blieb natürlich immer noch die Möglichkeit, uns durch den einen oder anderen Schacht zum hellen Tageslicht emporzuarbeiten, sofern ausreichend Zeit für genügend Versuche blieb. Daher liefen wir schließlich neugierig in die ausgemachte Richtung zum Tunnel.
Den Reliefs zufolge konnte der angestrebte Tunneleingang nicht viel weiter als vierhundert Meter von unserem Standort entfernt sein; dazwischen erhoben sich solide wirkende Bauwerke, die vermutlich bis unterhalb der Eisoberfläche noch begehbar waren. Der Eingang selbst befand sich offenbar im Keller eines großen fünfeckigen Gebäudes, das dicht bei den Vorbergen stehen musste und wohl öffentlichen, vielleicht zeremoniellen Aufgaben gedient hatte. Danforth und ich versuchten, uns zu erinnern, ob wir auf unserem Flug über die Ruinen einen solchen Bau bemerkt hatten. Wir erinnerten uns aber nicht an ein derartiges Gebäude, woraus wir schlossen, dass seine oberen Abschnitte stark beschädigt sein mussten oder dass es komplett in einer Eisspalte, die wir an dieser Stelle gesehen hatten, zerschellt war. Falls das Letztere zutraf, würde der Tunnel vermutlich unpassierbar sein, sodass wir uns dem nächsten zuwenden mussten – dem, der etwa einen Kilometer nördlich lag. Der dazwischen liegende Flusslauf hinderte uns daran, auf unserem jetzigen Streifzug einige der weiter südlichen Tunnel zu erproben; und sollten die beiden nächstgelegenen verschüttet sein, war es wirklich fraglich, ob unser Batterievorrat gestattete, es mit dem dritten Tunnel in nördlicher Richtung zu versuchen – der lag noch einmal gut eineinhalb Kilometer von unserer zweiten Wahl entfernt.
Als wir uns mit Hilfe von Karte und Kompass einen düsteren Weg durchs Labyrinth suchten – Räume und Korridore in jedem Zerfallsstadium durchquerten, Rampen erklommen, in höher gelegene Stockwerke stiegen, über Brücken schritten und sie wieder hinabkletterten, vor verschütteten Durchgängen und Schuttbergen standen, von Zeit zu Zeit gut erhaltene und geradezu unheimlich sauber anmutende Passagen entlangeilten, falsche Abzweigungen nahmen und wieder zurückliefen, dabei die umsonst ausgestreute Papierschnitzel-Spur aufsammelten, und manchmal auf dem Grund eines offenen Schachtes standen, durch den Tageslicht herabsickerte –, lockten uns die Reliefs an den Wänden. Viele davon hätten sicherlich Geschichten von herausragender historischer Bedeutung zu erzählen gehabt. Nur die Aussicht auf spätere Besuche versöhnte uns mit der Notwendigkeit, achtlos an ihnen vorüberzugehen, doch manchmal gingen wir langsamer und schalteten die zweite Taschenlampe ein. Leider hatten wir nicht mehr Filme bei uns, denn dann hätten wir sicherlich kurz innegehalten, um einige Basreliefs zu fotografieren, doch an ein zeitraubendes Abzeichnen war gar nicht zu denken.
Ich gelange nun abermals an einen Punkt, wo die Versuchung sehr groß ist, nur anzudeuten statt offen zu berichten. Aber es ist nötig, auch den Rest zu enthüllen, um zu rechtfertigen, dass die geplante Antarktis-Expedition aufgehalten werden muss.
Wir hatten die vorausbestimmte Position der Tunnelöffnung schon fast erreicht – waren vom zweiten Stock aus über eine Brücke zu der Kante einer spitz zulaufenden Mauer gekommen und in einen verfallenen Korridor hinabgestiegen, der mit besonders vielen sorgfältig ausgeführten und augenscheinlich rituellen Reliefs im Spätstil ausgestattet war –, als, kurz vor 20.30 Uhr, Danforths jugendlich feiner Geruchssinn uns den ersten Hinweis auf etwas Ungewöhnliches gab. Hätten wir einen Hund dabeigehabt, ich glaube, wir wären schon früher gewarnt worden. Zunächst
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