Chroniken der Jägerin 3
zurück.
»Niemals«, sagte er.
»Ich habe es selbst gesehen«, erzählte ich ihm. »Gerade in den Erinnerungen, die sie Oturu gelassen hat. Eine von ihnen war eine Frau mit Flügeln, und auch Zwillinge mit Rubinen auf der Stirn waren dabei …«
Jack bekam langsam wieder Luft.
»… und ein Riese mit nur einem Auge, ein Zyklop. Zwar widersetzte er sich den anderen, aber er war einfach zu langsam, um es zu verhindern.«
»Nein«, stammelte er, doch sein Blick war so fern, als redete er mit sich selbst. »Oh, oh, nein.«
»Die Ödnis hat sie zerstört, alter Wolf. Die Ödnis riss das Loch für dieses schlafende Miststück. Aber es hatte mit ihnen angefangen.«
Jack sackte gegen die Wand und schloss die Augen. Selbst in diesem Körper eines Teenagers konnte ich den alten Mann noch erkennen. Er sah zerbrechlich aus, und ich fühlte mich mies, weil ich es ihm erzählt hatte. Ich hätte es vielleicht ein wenig feinfühliger machen sollen. Oder es zumindest versuchen können.
Auf der anderen Seite der Tür konnte ich schwere Schritte
hören. Und einen Gehstock. Ich richtete Jack auf und berührte seine knochige Schulter. »Komm. Lass uns reingehen.«
Aber er schüttelte nur den Kopf und sah mich so schmerzerfüllt und elend an, dass mir der Atem stockte.
»Das wusste ich nicht«, erklärte er.
»Ist mir klar«, antwortete ich. »Das ist mir klar, Jack.«
»Sie war so wütend«, fuhr er fort, als die Tür neben uns aufgedrückt wurde. »Die Dinge, die sie ihnen antat. Ich habe das nie verstanden.«
Grant streckte seinen Kopf heraus. Mal hing über seiner Schulter. Er sah mich erleichtert an, mit einer tiefen Wärme, die ausschließlich in seinen Augen lag, nicht jedoch in den grimmig zusammengepressten Lippen. Ich hatte das Gefühl, dass er uns schon sehr lange zugehört hatte. Unsere Stimmen mussten durch die offene Tür leicht zu hören gewesen sein.
Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf, genau in dem Augenblick, als Jack anfing, heftig zu zittern, und sich die Brust hielt, als würde sie schmerzen.
»Ich werde das wieder in Ordnung bringen«, sagte er und schloss die Augen. »Damals war ich ein Feigling, aber heute bin ich es nicht mehr. Ich werde das wieder in Ordnung bringen.«
Ich runzelte die Stirn. »Jack?«
Er sah mir tief in die Augen. »Ich liebe dich, meine Kleine. Ich werde dich immer lieben.«
»Nein«, sagte Grant alarmiert. Er tat einen Satz nach vorn. »Jack …«
Die Augen meines Großvaters verdrehten sich, und sein Mund erschlaffte. Er brach bewusstlos zusammen, doch ich fing ihn auf, bevor er auf dem Boden aufschlug. Die Jungs sprangen aus den Schatten. Ihre Augen funkelten rot.
Ich biss die Zähne zusammen. »Jack.«
»Jetzt ist es wieder Byron«, sagte Grant stirnrunzelnd. »Jack hat den Körper verlassen.«
Ich berührte das Gesicht des Jungen. Seine Haut war warm, aber nicht fiebrig, allerdings blass und ausgezehrt. Sein Mund bewegte sich zwar, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte.
Ich nahm ihn hoch und in meine Arme. Ich strauchelte ein bisschen, konnte sein Gewicht dann aber doch halten. Grant blieb dicht bei mir und packte vorsichtig Byrons Fußgelenk. Sein Blick war abwesend, während er leise summte.
Ich brachte Byron hinein, vorbei an Kisten und alten, verstaubten Möbeln, bis ich die Treppe erreichte. Stufe um Stufe trugen wir ihn hoch, bis wir Jacks Apartment erreichten. Die Tür stand offen.
Kein Licht brannte, aber ich hörte es rascheln, und dann flammte eine der Lampen auf. Ich spürte Deks heiße Zunge an meinem Ohr, und beide, er und Mal, sangen einen kurzen Ausschnitt aus Gladys Knights: Walk Softly .
Grant sagte: »Er hat innere Verletzungen und blutet.«
Ich sah ihn scharf an, da fügte er hinzu: »In seinem Geist, nicht in seinem Körper.«
Ich hievte Byron etwas höher und versuchte den schmalen Pfad zwischen den Büchern hindurch zu bewältigen. Grant schwankte hinter mir und bemühte sich, nicht über die Bücher zu stolpern, die ich bereits umgeworfen hatte. Ich entschuldigte mich leise, hielt aber nicht an und schaute auch nicht zu der Botin hinüber, die am Küchentisch saß und mich mit wachsender Angst in ihrem Blick beobachtete, während ich an ihr vorbeiging.
»Der Schöpfer«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf und trug den Jungen ins Schlafzimmer. Ein kleiner, abgetrennter Raum mit ungemachtem Bett, Klamotten auf dem Boden und noch mehr herumliegenden Büchern. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Jack hier viel Zeit verbracht
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