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Chroniken der Jägerin 3

Chroniken der Jägerin 3

Titel: Chroniken der Jägerin 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Liu
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blass, geradezu totenbleich, aber falls er Angst hatte, konnte ich es seinen Augen nicht ansehen.
    »Hinter mir«, sagte er. »Hör doch!«
    Aber ich brauchte gar nicht hinzuhören. Die Stimme der Frau war ja überall, sie tönte durch die Bäume hindurch, und zwar in einem Mollton, der so klang, als sei er mit dem Geräusch von Fingernägeln auf einer Wandtafel verwandt. Die Jungs unter meiner Haut ringelten sich.
    Auch Grant sprach jetzt mit der Macht in seiner Stimme, jeder Ton rollte über mich hinweg wie eine mächtige Welle im Ozean – und ich war das Riff, der Berg. Meine Wurzeln reichten bis in den Fels hinein.
    »Bleib hier«, forderte ich Grant auf, doch er griff nach meinen Händen und benutzte mich, um selbst auf die Füße zu kommen. Seine Kraft überraschte mich. Und als er schließlich
stand, verschwendete ich keine Zeit damit, ihn wieder zum Hinsetzen zu bewegen. Er brauchte mich nur anzuschauen. Intensiv, nachdenklich und voller Entschlossenheit. Und dann zuckte sein Mundwinkel, und sein Blick füllte sich mit Wärme und Vertrauen. Als ob das, was wir tun wollten, gar nichts wäre – was auch immer uns bevorstand.
    Ich ergab mich ihm. Ein Mann, der es vermochte, Mama-Blut Angst einzujagen und einen Avatar nur mit seiner Stimme zu töten, konnte kein Dummkopf sein, und er war ganz sicher niemand, den man beschützen musste.
    Obwohl ich es getan hätte. Sogar bis zu meinem letzten Atemzug.
    Ich drehte mich um und lief los. Grant rammte seinen Stock in den Boden und folgte mir in kurzem Abstand. Für einen Mann mit einem kaputten Bein bewegte er sich erstaunlich schnell.
    Ich sah Jack als Erstes. Er stand da, mit geschlossenen Augen, hielt sein Gesicht in den Himmel. Er zitterte und schüttelte sich. Vielleicht vor Kälte, vielleicht unter einem schrecklichen Druck. Mir schien eher Letzteres zutreffend. Die Botin stand neben ihm. Auch sie hielt ihr Gesicht empor und hatte den Mund so weit geöffnet, dass sie eine große Männerfaust hätte verschlucken können. Ihr Unterkiefer war ausgekugelt. Die Vene in ihrem langen Hals vibrierte wie die Flügel eines Kolibris. Grotesk. Genauso wie ihre Stimme.
    Zuerst hörte ich Melodiebogen, aber es war, als ob etwas festhing, eingeschlossen wäre, und als wenn sie jetzt Energie bräuchte. In einem wilden Durcheinander lagen die drei Menschen vor ihr. Sie sahen tot aus. Als ob sie eine Woche in der Wüste gelegen hätten und von der Sonne ausgedörrt worden wären.

    Ich rannte weiter, wurde schneller und krachte schließlich mit all meiner Kraft gegen die Botin. Wir flogen bis zum nächsten Baum. Ich hörte ein lautes Knacken. Knochen. Holz. Ich fühlte gar nichts, aber die Botin hustete Blut, und ihr Unterkiefer hing herunter – wie alte Unterwäsche.
    Aber noch immer kam die Stimme aus ihrer Brust, wurde lauter und lauter. Sogar ihr Husten war noch melodisch. Jeder Ton strahlte vor Macht, jede Note war reinste Energie.
    Sie starrte mich an. Ich biss die Zähne zusammen und rammte ihren Kopf in den Baum. Ich würde sie nicht davonkommen lassen. Nicht noch einmal. Sie wandte den Blick nicht von mir ab, sondern starrte mich unbeirrt an. Unheimlich, gülden. Ich zuckte nicht mit der Wimper. Das Wenigste, das ich tun konnte, war, nicht mit der Wimper zu zucken, wenn ich sie tötete.
    »Nein«, sagte Jack hinter mir. Grant fiel neben mir auf die Knie und drückte seine Hand auf die Stirn der Frau. Sie schnappte nach Luft und versuchte, sich von ihm zu befreien. Aber ich kletterte auf sie drauf und hielt sie fest.
    »Öffne deine Augen«, sagte Grant. Jedes Wort schien in der Luft zu schimmern und wurde vom Klang seiner Stimme getragen, einer Stimme, die bis in mein Herz reichte. Mein Herz war in diesem Augenblick stärker als mein Verstand, denn ich sah jetzt Dinge, wärmende Funken der Erinnerung: wie ich mit ihm am Strand entlanglief und uns der Wind entgegenschlug, als wir die Arme ausbreiteten, als könnten wir fliegen, oder die Nächte im Kerzenschein, in kleinen Restaurants mit dunklen, unbeobachteten Ecken, wo sich unter dem Tisch unsere Zehen ineinander verhakelten, oder wie seine Hände meine nackten Schultern hinabglitten, an meinem Rücken entlang, und mich dicht an sich drückten, immer enger…

    Ich rang nach Luft, hielt meinen Kopf. Es überflutete mich. Ich war überwältigt. Ich versuchte, mich an mehr zu erinnern, aber es war einfach zu viel, zu viel auf einmal. Ich musste mich an einem Baum abstützen.
    »Nein«, sagte Jack noch einmal und war

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