Chroniken der Jägerin 3
nur darum, das Richtige zu tun. Komme, was da wolle.
Ich legte meine Hand auf Zees Hand. »Was wird passieren, wenn der Schleier fällt?« Zee legte seinen Kopf auf meinen Bauch. »Das weiß keiner. Entweder werden wir wieder zu dem, was wir einmal waren, oder du wirst … jemand anders.«
»Und wenn ich vorher sterbe?«
Die Jungs erstarrten. Zee sagte: »Nein!«
»Es wäre das Opfer wert.«
»Nein«, sagte er wieder. »Wir haben bessere Chancen, wenn du am Leben bist.«
»Welche Chancen denn?«
»Es gibt immer eine Chance. Es gibt immer Möglichkeiten.« Zee schloss die Augen. »Bleib bei uns.«
Ich streichelte seinen Kopf. »Warum ist es dir so wichtig? Ich bin doch dein Gefängnis. Wir alle waren dein Gefängnis.«
»Das ist kein Geheimnis. Wir wissen, dass wir gefangen sind.«
»Aber ihr seid ja nicht einfach nur Dämonen. Was ihr seid …«
»Fünf Herzen«, schnarrte Zee und tippte mir fünf Mal auf die Brust. »Fünf Herzen. Jetzt sechs. Dann sieben und irgendwann acht. Alle zusammen. Alle stark.«
Ich legte meine Hand um seine. »Meines ist das sechste.«
»Lichtbringer ist sieben. Das Baby, wenn die Zukunft es bringt …«
»Acht.« Ich atmete tief ein. »Was kümmert es dich eigentlich, Zee?«
Rohw und Aaz tuschelten. Dek und Mal hörten auf zu summen. Zee murmelte: »Wir haben gewütet. Über viele Leben haben wir gewütet.«
Ich wartete auf mehr, aber er sprach nicht weiter. Ich drängte ihn auch nicht. Ich wollte zwar, aber ich hatte Angst – so als stünde ich am Rand eines furchtbaren Abgrunds über einer nie endenden Dunkelheit und würde abstürzen, wenn ich auch nur einen falschen Atemzug nahm oder mich ein winziges Stück in die falsche Richtung bewegte. Verloren – für immer.
Die Jungs waren also die Schlächterkönige. Meine Jungs. Meine gefährlichen kleinen Jungs. Ich konnte das nicht begreifen. Ich konnte auch nicht begreifen, was das aus mir machte.
Zee strich mir zärtlich über den Kopf. »Schlaf, Maxine. Wir bewachen deine Träume.«
»Passt auf Grant und Jack auf«, wies ich ihn an und schloss meine Augen. »Die Botin ist immer noch bei ihnen. Wenn sie irgendetwas versuchen sollte …«
»Werden wir sie töten.«
Ich widersprach nicht, aber die Vorstellung von noch mehr Toten machte mich traurig und krank. Ich hatte nicht das Recht, ihr das Leben zu nehmen. Jetzt noch weniger als zuvor. Ich musste ja auch niemandem etwas beweisen. Nur dass ich unvorstellbaren Schaden anrichten konnte, wenn sich keiner getäuscht hatte. So wie ich mich gerade fühlte, würde ich vielleicht das Schwert niederlegen und zu einem zweiten Gandhi werden müssen.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte ich.
Zee antworte mir nicht. Eigentlich wollte ich nur meine Augen für einen Moment schließen. Ein bisschen Frieden zusammen mit den Jungs. Vielleicht waren wir Monster, aber nicht für uns, nicht füreinander.
Dek und Mal sangen mich in den Schlaf.
Ich träumte, und niemand rettete mich.
Ich hatte mich schon einmal in der Dunkelheit verirrt. Verloren in der Ödnis, jenem Ort im Labyrinth, fern von allen Wegen und allen Welten, in den man Leben und auch Träume warf, um sie zu vergessen. Ein Seelenkerker.
Ich war die Einzige, der es je gelungen war zu fliehen. Ich
hatte dort überlebt, wo ich eigentlich nicht hätte weiterleben können; aber die Jungs teilten ihre Kraft mit mir, am Ende sogar ihren Atem. Und so hielten sie mich am Leben.
Wäre ich gestorben, wären auch sie tot. So war es immer schon gewesen, doch war ich jetzt nicht mehr sicher, ob es wirklich wahr sein konnte.
Nichts war wahr.
Außer dein Herz , hörte ich meine Mutter flüstern.
Sie erschien nicht in meinem Traum. Ich war wieder in der Ödnis, aber der Irrgarten, durch den ich wanderte, war aus Fleisch statt aus Stein gemacht – und ich befand mich nicht im Labyrinth, sondern im Bauch eines gigantischen Wyrm.
Es gab Sterne in ihm, die in der Dunkelheit seines Magens glitzerten, und hinter den Sternen sah ich Galaxien kreisen, die sich träge immer weiter aufdrehten.
Wir sind gigantisch , flüsterte eine tiefe, sanfte Stimme. Wir sind die andere Seite des Lichts. Zur Welt gebracht vom ersten Funken des ersten Augenblicks des ersten Atemzugs eines Mundes, der sich geöffnet und nie wieder geschlossen hat. Und dieser Mund öffnet sich noch immer und schließt sich niemals. Aus ihm entspringen Welten und Träume und das Feuer unzähliger Sterne. Wir sind gigantischer als die Sterne, weil wir
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