Chroniken der Jägerin 3
voll von glitzernden Klingen, die so lang wie mein Unterarm waren und sich mit den Spitzen voran in die Erde bohrten, als wollten sie eine tödlichen Pirouette vollführen.
Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte die Augen nicht schließen. Kälte raste durch mein Blut – erst kalt, dann heiß, ein Angstschauer und ein kleiner, gefährlicher Nervenkitzel –, denn hier, hier kam es drauf an: Hier befand sich die einzige Kreatur auf der Welt, der die Jungs erlauben würden, mich zu töten. Ohne den geringsten Widerstand.
»Oturu«, hauchte ich.
»Unsere Jägerin«, flüsterte der Dämon. »Wir haben dich schon vermisst.«
14
T rotz allem. Ich hatte ein kleines Leben geführt. Ausgefüllt war es gewesen, gewiss, aber klein. Ich bin in den ersten fünfundzwanzig Jahren meines Lebens mit einer festen Überzeugung aufgezogen worden, die ich nie bezweifelt hatte. Ich hatte andere Teile meines Lebens durchaus bezweifelt, aber das niemals.
Dämonen waren schlecht. Die Jungs ausgenommen.
Die Jungs zählten nicht. Selbst meine Mutter war darin ganz eindeutig. Die Jungs gehörten zur Familie. Die Jungs waren nur so gut wie das Herz, das sie anführte, aber ihre Befähigung, gut zu sein, sie reichte tiefer, als nur Befehlen zu gehorchen und Erwartungen gerecht zu werden. Die Jungs konnten Gut und Böse auseinanderhalten. Und die Jungs konnten Mitleid empfinden … wenn sie es zuließen.
Aber alle anderen, alle anderen mussten getötet werden.
Dann war ich nach Seattle gegangen. Lernte Grant kennen. Und fing an, Dämonen mit anderen Augen zu betrachten. Sie mussten zwar immer noch sterben. Aber jetzt tötete ich sie in dem Bewusstsein, dass sie die Wahl hatten, sich zu ändern.
Das war eine schwierige Wahrheit. Es war leicht, etwas zu töten, solange man denkt, es wäre ein Ärgernis, so wie man eine Fliege totschlägt oder eine Wanze. Parasiten mussten ja sterben.
Aber wenn es Grant gelang, den Instinkt von Dämonen zu verändern, wenn Dämonen sogar das Bedürfnis entwickeln konnten, verändert zu werden… so folgten beunruhigende Konsequenzen aus dieser Wahlmöglichkeit, jener Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken und grundlegende Veränderungen hinzunehmen, die der eigenen Natur zuwiderliefen.
Alle logischen Folgerungen zu Ende gedacht, bedeutete das nämlich, dass ich im Unrecht war. Dass auch meine Mutter im Unrecht gewesen war. Alle Frauen meiner Blutlinie hatten sich geirrt.
Vielleicht aber – wirklich nur vielleicht – begriff ich auch nur endlich etwas, was sie alle schon gewusst, dann aber bewusst ignoriert hatten. Dass man über Dämonen, genauso wie über Menschen, nicht einfach urteilen konnte.
So wie über Oturu.
Oder über mich.
Oder über die Jungs.
Ich sah, wie die dolchartigen Spitzen von Oturus Füßen über die Blätter glitten. Das Sternenlicht erreichte ihn nicht, vielleicht war es auch das unendliche Dunkel seines Umhanges, sein Körper im Mysterium der Nacht. Er war ein Geschöpf, so weit jenseits menschlicher Vorstellungskraft, dass Dämon die einzige passend erscheinende Bezeichnung war, die ich ihm geben konnte, die einzige Definition, die all das umfasste, was fremdartig und gefährlich an ihm war … und auch schön.
Die wenigen Male, die wir uns gesehen hatten, konnte ich an den Fingern einer Hand abzählen. Anfangs hatte ich ihn gefürchtet. Ein Teil von mir tat es immer noch. Aber jede Begegnung
hatte ein bisschen mehr von ihm preisgegeben, mehr und mehr, so dass ich mich inzwischen sogar auf eine eigenartige Weise freute, ihn zu sehen. Oturu war niemals im Gefängnisschleier gefangen gewesen. Er hatte sich immer in Freiheit befunden. Und er war meiner Blutlinie jederzeit ergeben gewesen, meinen tödlichen Vorfahren, die ihn im Labyrinth entdeckt und sich mit ihm angefreundet hatten.
Strähnen seines dunklen Haares ringelten sich wie Korkenzieher auf mein Gesicht zu und schwebten dicht an die Narbe unter meinem Ohr heran. Ich blieb standhaft und wich nicht zurück, aber Dek zischte, und Mal glitt um meinen Hals herum und richtete sich wie eine Kobra auf.
»So«, sagte ich und war stolz darauf, dass meine Stimme fest klang. »So sieht man sich wieder.«
Sein Mund verzog sich zum Anflug eines Lächelns. »Du, Mistress, mit deinen Jagdhunden, bist bereit zur Jagd. Du, Königin, die du näher als jemals zuvor an der Schwelle zur Ewigkeit stehst.«
Ich war zu müde für ein Geplänkel. »Wo ist Spürhund?«
Spürhund. Der Sklave dieser Kreatur. Meine Ahnfrau
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