Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
zu prahlen. Warum du allerdings so großen Wert darauf legst, dass man dich nicht mangelnder Tugendhaftigkeit verdächtigt, weiß ich wirklich nicht.«
Vor Tessas innerem Auge tauchte kurz Jems Gesicht auf. »Nein, das weißt du wahrhaftig nicht«, erwiderte sie, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Salon, sodass Will allein zurückblieb und ihr vollkommen verwirrt nachschaute.
Sophie eilte die Piccadilly Street entlang, den Kopf gesenkt und die Augen auf den Gehweg geheftet. Sie war daran gewöhnt, dass viele Passanten leise tuschelten und sie gelegentlich sogar unverhohlen anstarrten, und hatte sich deshalb im Laufe der Zeit eine Technik angeeignet, die es ihr erlaubte, das Gesicht im Schatten ihres Hutes zu verstecken. Dabei schämte sie sich gar nicht für ihre Narbe, aber sie hasste die mitleidigen Blicke der anderen.
Sie trug eines von Jessamines alten Kleidern. Es war zwar noch längst nicht aus der Mode gekommen, aber Jessamine zählte zu jenen Mädchen, die jedes Gewand, das sie mehr als drei Mal getragen hatten, als »antik« bezeichneten und es entweder fortwerfen oder umändern ließen. In dem grün-weiß gestreiften Moirékleid mit passendem Hut konnte Sophie durchaus als junge Dame von Stand durchgehen, zumal ihre vom vielen Arbeiten geröteten Hände in weißen Glacéhandschuhen steckten - wenn sie denn nicht allein unterwegs gewesen wäre.
Sophie entdeckte Gideon, bevor er sie sah. Er lehnte an einem Laternenpfahl vor der ausladenden hellgrünen Markise über dem Eingang zu Fortnum & Mason. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie ihn betrachtete: Er war attraktiv in seiner dunklen Kleidung, so wie er dastand und gelassen die Uhrzeit auf seiner goldenen Taschenuhr prüfte, die mit einer dünnen Kette an seiner Weste befestigt war. Sophie hielt einen Moment inne und beobachtete die vielen Passanten, die an ihm vorbeiströmten, im geschäftigen Treiben auf einer der viel befahrensten Straßen Londons, in der Gideon wie ein Fels in der Brandung wirkte. Alle Schattenjäger hatten etwas Derartiges an sich, überlegte Sophie, diese Reglosigkeit, diese dunkle Aura der Abgeschiedenheit, die sie vom hektischen Leben der Irdischen unterschied.
In dem Moment schaute Gideon auf und lächelte - jenes Lächeln, das sein ganzes Gesicht verzauberte. »Miss Collins«, sagte er und eilte auf sie zu.
Sophie ging ihm entgegen und hatte plötzlich das Gefühl, als würde sie seinen Kreis der Abgeschiedenheit betreten. Denn das beständige Rauschen des Straßenverkehrs und das Stimmengewirr der Passanten schienen zu schwinden und zurück blieben nur noch sie und Gideon, die Gesichter einander zugewandt. »Mr Lightwood«, begrüßte sie ihn.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht veränderte sich, zwar nur einen Hauch, aber Sophie bemerkte es dennoch. Und sie bemerkte auch, dass er etwas in seiner linken Hand hielt - einen Weidenkorb. Verwundert schaute sie zu dem Korb und dann wieder zu Gideon.
»Einer von Fortnum & Masons berühmten Picknickkörben«, erläuterte der junge Schattenjäger mit einem schiefen Grinsen. »Stiltonkäse, Wachteleier, Rosenblütengelee ...«
»Mr Lightwood«, setzte Sophie erneut an und unterbrach ihn damit zu ihrer eigenen Verwunderung. Ein Dienstmädchen durfte einen Gentleman unter keinen Umständen unterbrechen ... »Ich war in großer Bedrängnis - ich meine, tief in meinem Inneren -, ob ich zu diesem Treffen heute überhaupt kommen sollte. Doch schließlich habe ich mich dazu durchgerungen ... und sei es auch nur, um Ihnen persönlich mitzuteilen, dass ich Sie nicht mehr treffen kann. Ich dachte, so viel Anstand wäre ich Ihnen schuldig. Allerdings bin ich mir nicht mehr sicher.«
Verwirrt blickte Gideon sie an und in diesem Augenblick sah Sophie nicht den Schattenjäger, sondern einen ganz normalen jungen Mann, wie Thomas oder Cyril, der einen Picknickkorb umklammerte und die Überraschung und Bestürzung in seinem Gesicht nicht verbergen konnte. »Miss Collins, falls ich irgendetwas getan habe, um Ihren Unmut zu erregen ...«
»Ich kann mich einfach nicht mehr mit Ihnen treffen. Und das ist alles, was ich dazu zu sagen habe«, erwiderte Sophie und wandte sich zum Gehen. Sie wollte auf schnellstem Wege nach Hause zurückkehren - vielleicht erwischte sie ja noch den nächsten Bus in Richtung Institut ...
»Miss Collins. Bitte.« Gideon tauchte an ihrer Seite auf; er wagte es nicht, sie zu berühren, lief aber mit aufgewühlter Miene neben ihr her. »Bitte sagen Sie
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