Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
meine, mich zu verirren. Denn ich war schon immer der Ansicht, dass man sich nicht verirren, nicht wahrhaft verloren sein kann, wenn man sein eigenes Herz kennt. Aber ich fürchte, wenn ich dein Herz nicht kennenlernen darf, werde ich wahrhaft verloren sein.« Er schloss die Augen, wie von abgrundtiefer Müdigkeit erfasst, und Tessa konnte sehen, dass seine Lider dünn wie Pergament waren. »Wo ai ni, Tessa«, flüsterte er. »Wo bu xiang shi qu ni.«
Ohne sagen zu können, woher, wusste sie, was diese Worte bedeuteten.
Ich liebe dich.
Und ich will dich nicht verlieren.
Ich möchte dich auch nicht verlieren, wollte Tessa erwidern, aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Stattdessen wurde sie von einer Mattigkeit erfasst, die wie eine dunkle Woge über ihr zusammenschlug und sie in Schweigen hüllte.
Dunkelheit.
In der Zelle war es dunkel und Tessa nahm als Erstes ein Gefühl großer Einsamkeit und Angst wahr. Jessamine lag auf dem schmalen Bett, die blonden Haare in verfilzten Strähnen über ihren Schultern. Tessa schwebte über ihr und hatte den Eindruck, ihren Verstand zu berühren. Sie konnte ein überwältigendes Gefühl des Verlusts spüren. Irgendwoher wusste Jessamine, dass Nate nicht mehr lebte. Bei Tessas vorherigen Versuchen, den Geist der Schattenjägerin zu berühren, war sie stets auf Widerstand gestoßen, doch nun empfand sie nur noch eine wachsende Traurigkeit, die sich ausbreitete wie ein schwarzer Tintentropfen in klarem Wasser.
Jessie hatte die braunen Augen geöffnet und starrte in die Dunkelheit. Mir ist nichts mehr geblieben. Die Worte hallten so klar und deutlich wie Glockengeläut durch Tessas Verstand. Ich habe mich für Nate statt für die Nephilim entschieden und nun ist er tot und Mortmain möchte mich auch tot sehen und Charlotte verachtet mich. Ich habe alles aufs Spiel gesetzt und verloren.
Während Tessa von oben zuschaute, tastete Jessamine nach ihrem Hals und zog sich eine dünne Kette über den Kopf. Am Ende der Kette baumelte ein goldener Ring mit einem glitzernden weißen Stein - ein Diamant. Sie nahm den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und nutzte den Diamanten dazu, zwei Buchstaben in die Steinmauer zu ritzen.
JG.
Jessamine Gray.
Möglicherweise hatte sie noch etwas hinzufügen wollen, doch das sollte Tessa nicht mehr herausfinden, denn als Jessamine den Ring erneut gegen die Mauer drückte, zersplitterte der Diamant und ihre Hand schlug so hart gegen die Steine, dass ihre Fingerknöchel aufgeschürft wurden.
Tessa brauchte Jessamines Verstand nicht zu berühren, um zu wissen, was das Mädchen in diesem Moment dachte - nicht einmal der Diamant war echt gewesen. Mit einem unterdrückten Schrei rollte Jessamine sich auf die Seite und begrub das Gesicht in der groben Decke.
Als Tessa erneut erwachte, war die Nacht angebrochen. Schwaches Sternenlicht fiel durch die hohen Fenster der Krankenstation und auf dem Nachttisch an ihrem Bett brannte eine Elbenlichtlampe. Daneben standen eine Tasse mit dampfendem Kräutertee und ein kleiner Teller mit Gebäck. Vorsichtig setzte Tessa sich auf, um nach der Tasse zu greifen - und erstarrte dann.
Auf dem Bett nebenan saß Will, bekleidet mit einem weiten Hemd, einer dunklen Hose und einem schwarzen Morgenmantel. Seine Haut schimmerte blass im Sternenschein, aber selbst dieses gedämpfte Licht konnte das leuchtende Blau seiner Augen nicht schwächen.
»Will«, murmelte Tessa verwundert, »wieso bist du wach?« Hatte er sie etwa im Schlaf beobachtet, fragte sie sich. Wie merkwürdig und vollkommen untypisch für ihn.
»Ich habe dir einen Kräutertee gebracht«, erklärte Will, ein wenig unbeholfen. »Aber du hast so geklungen, als hättest du einen Albtraum gehabt.«
»Wirklich? Ich kann mich gar nicht erinnern, was ich geträumt habe.« Tessa zog die Bettdecke bis zum Kinn, obwohl ihr züchtiges Nachthemd sie vollständig bedeckte. »Es kam mir so vor, als hätte ich im Schlaf Zuflucht genommen ... Das richtige Leben schien ein Albtraum zu sein und der Schlaf der Ort, an dem ich Ruhe und Frieden finden würde.«
Will griff nach der Teetasse und setzte sich auf Tessas Bett. »Hier. Trink das.«
Gehorsam nahm sie die Tasse entgegen und nippte daran. Der Kräuteraufguss besaß einen leicht herben, aber angenehmen Geschmack, wie die Schale von Zitronen. »Was ist das für ein Tee? Welche Wirkung hat er?«, erkundigte sie sich.
»Er beruhigt«, erklärte Will.
Tessa schaute ihn an, während sich der Zitronengeschmack
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