Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
verwundert aufschaute. »Bitte, was auch immer Sie tun mögen, Miss ...« Das Mädchen warf einen bezeichnenden Blick auf die Kette mit dem Jadeanhänger, der vorne in Tessas Kleid steckte, und biss sich auf die Lippen. »Bitte brechen Sie ihm nicht das Herz.«
20
DIE BITTERE WURZEL
Doch wir sind entzweit, geh du morgenwärts,
Leib seines Leibs, meines Herzens Herz,
Und die Wurzel ist bitter, doch süß war im Hag
Die Blüte, der Wind vertilgt ihre Spur.
ALGERNON CHARLES SWINBURNE,
»DER TRIUMPH DER ZEIT«
[28]
Tessa streifte ihre Samthandschuhe über, während sie auf die Stufen vor dem Institut hinaustrat. Ein kräftiger Wind wehte vom Fluss hoch und wirbelte einen Haufen Blätter durch den Innenhof. Der Himmel hatte sich zugezogen, dunkelgraue Gewitterwolken lagen drückend über der Stadt.
Will stand am Fuß der Treppe, die Hände in den Taschen, und schaute hinauf zur Kirchturmspitze. Da er keinen Hut trug, fuhr ihm die Brise durch die schwarzen Haare und blies sie aus seinem Gesicht. Er schien Tessa nicht zu bemerken.
Einen Moment lang hielt Tessa inne und betrachtete ihn. Sie wusste zwar, dass das nicht richtig war - Jem gehörte nun zu ihr und sie zu ihm und andere Männer sollten für sie eigentlich nicht länger existieren -, aber sie konnte es einfach nicht lassen, die beiden Freunde miteinander zu vergleichen: Jem mit seiner ganz eigenen Mischung aus Feingliedrigkeit und Stärke, Will dagegen wie ein Sturm auf hoher See, schieferblau und schwarz, mit grell aufflackernden Wutausbrüchen wie helles Wetterleuchten. Tessa fragte sich, ob jemals der Moment kommen würde, in dem sein Anblick ihr kein Herzflattern mehr bereiten würde und ob dieses Gefühl vielleicht schwinden würde, je mehr sie sich an die Vorstellung gewöhnte, mit Jem verlobt zu sein. Der Gedanke war noch so neu, dass er ihr auch jetzt irgendwie unwirklich erschien. Doch eines hatte sich bereits verändert: Wenn sie Will nun betrachtete, verspürte sie nicht länger diesen furchtbaren Schmerz.
In dem Moment entdeckte Will Tessa und lächelte sie durch die windzerzausten Haare an. »Dieses Kostüm ist neu, hab ich recht?«, bemerkte er und schob sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, als Tessa die Stufen hinabschritt. »Keines von Jessamines Kleidern.«
Tessa nickte und wartete resigniert auf einen seiner sarkastischen Kommentare - über sie, Jessamine, das Kostüm oder alles zusammen.
»Es steht dir. Seltsam, dass dieser Grauton deine Augen blauer erscheinen lässt ...«
Verwundert schaute sie ihn an, aber bevor sie auch nur den Mund öffnen könnte, um ihn zu fragen, ob es ihm wirklich gut gehe, ratterte die Institutskutsche um die Ecke des Gebäudes. Cyril brachte die beiden Pferde vor den Stufen zum Stehen und der Kutschschlag schwang auf.
Charlotte saß bereits in der Kutsche. Sie trug ein weinrotes Samtkostüm, dazu einen Hut mit einem getrockneten Blütenzweig und sie wirkte nervöser, als Tessa sie je erlebt hatte. »Schnell, schnell, steigt ein«, rief sie und hielt ihren Hut mit einer Hand fest, als sie sich leicht aus dem Fahrzeug beugte. »Ich glaube, es fängt jeden Moment an zu regnen.«
Zu Tessas Überraschung fuhr Cyril sie nicht zum Landsitz der Lightwoods in Chiswick, sondern zu einem eleganten Stadthaus in Pimlico, in dem die Familie Lightwood unter der Woche residierte. Es hatte tatsächlich zu regnen begonnen und ein schmallippiger Lakai nahm ihnen ihre feuchten Mäntel, Hüte und Handschuhe ab, ehe man sie durch lange Flure mit glänzenden Marmorböden zu einer großen Bibliothek führte, wo ein prasselndes Feuer in einem imposanten Kamin brannte.
Hinter einem wuchtigen Eichenschreibtisch saß Benedict Lightwood, dessen hageres Profil durch das Spiel von Licht und Schatten im Raum noch kantiger wirkte als üblich. Die Vorhänge vor den hohen Fenstern waren geschlossen und an den Wänden reihten sich Regale mit schweren, ledergebundenen Wälzern, deren Rücken mit Goldlettern bedruckt waren. Der alte Lightwood wurde von seinen Söhnen flankiert: Gideon stand rechts neben ihm, seine Miene hinter den ins Gesicht gekämmten Haaren sorgfältig verborgen und die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Links von seinem Vater wartete Gabriel, in dessen grünen Augen sich ein Ausdruck überheblicher Belustigung spiegelte; er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah aus, als würde er jeden Moment vergnügt zu pfeifen beginnen.
»Charlotte!«, rief Benedict zur Begrüßung. »Will. Miss Gray. Wie
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