Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
ihr hinabblickte, sah all die Liebe, das Licht, die Zuversicht und die Hoffnung in seinen Augen. »Nein«, wisperte sie. »Das wird nicht möglich sein.«
»Aber es ist ... es muss möglich sein«, erwiderte Will verzweifelt. »So sehr kannst du mich doch gar nicht hassen ...«
»Ich hasse dich überhaupt nicht«, sagte Tessa mit großem Schmerz in der Stimme. »Ich habe es versucht, Will. Aber ich konnte dich einfach nicht hassen.«
»Dann ... dann besteht also doch noch Hoffnung.« Zuversicht keimte in seinen Augen auf.
Tessa schüttelte den Kopf. Sie hätte nicht so sanft mit ihm reden dürfen - oh Gott, gab es denn keine Möglichkeit, diese ganze Situation weniger schrecklich zu machen? Sie musste es ihm sagen. Jetzt. Sofort. Unmissverständlich.
»Tessa, wenn du mich nicht hasst, dann besteht ja vielleicht doch die Chance, dass du ...«
»Jem hat um meine Hand angehalten«, platzte Tessa heraus. »Und ich habe Ja gesagt.«
»Was?«
»Ich sagte, Jem hat um meine Hand angehalten«, wisperte Tessa. »Er hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden möchte. Und ich habe eingewilligt.«
Bei diesen Worten war Will kreidebleich geworden und er fragte fassungslos: »Jem. Mein Jem?«
Tessa nickte stumm. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.
Will taumelte und musste sich an der Rückenlehne eines Stuhls abstützen. Er sah aus, als hätte er einen brutalen Tritt in den Magen bekommen. »Wann?«
»Heute Morgen. Aber wir sind uns schon eine ganze Weile näher gekommen, viel näher ... schon sehr lange.«
»Du ... und Jem?« Will erweckte den Eindruck, als verlangte man von ihm, etwas vollkommen Unmögliches zu glauben: Schnee im Sommer, ein Londoner Winter ohne Regen.
Statt einer Antwort holte Tessa mit bebenden Fingern den Jadeanhänger hervor. »Jem hat mir das hier geschenkt«, sagte sie sehr leise. »Der Anhänger war das Hochzeitsgeschenk seiner Mutter.«
Will starrte auf das Schmuckstück, auf die chinesischen Schriftzeichen, als handelte es sich um eine Schlange, die Tessa an ihrem Busen nährte. »Jem hat mir nie davon erzählt. Hat dich mit keinem Wort erwähnt. Nicht auf diese Weise.« Er schob sich die Haare aus dem Gesicht, mit jener charakteristischen Geste, die Tessa schon Tausende Male bei ihm beobachtet hatte - nur dieses Mal zitterte seine Hand sichtlich. »Liebst du ihn?«, fragte er.
»Ja, ich liebe ihn«, erwiderte Tessa und sah, wie Will zusammenzuckte. »Du denn nicht?«
»Aber er würde es verstehen«, murmelte Will benommen. »Wenn wir es ihm erklären würden. Wenn wir es ihm sagen würden ... Er würde es verstehen.«
Einen Moment lang stellte Tessa sich vor, wie sie die Kette mit dem Anhänger abnahm, wie sie durch den Flur ging und dann an Jems Zimmertür klopfte. Wie sie ihm das Schmuckstück zurückgab. Und ihm sagte, dass sie einen Fehler begangen habe und dass sie ihn nicht heiraten könne. Sie könnte ihm alles erzählen, alles über Will und sie - dass sie sich nicht sicher sei, dass sie Zeit bräuchte, dass sie ihm nicht ihr ganzes Herz schenken könne, dass ein kleiner Teil von ihr immer Will gehört hatte und ihm immer gehören würde.
Doch dann musste sie an die ersten Worte denken, die sie je von Jem vernommen hatte - als er in seinem Zimmer saß, mit geschlossenen Augen, das Gesicht dem Mondschein zugewandt und mit dem Rücken zu ihr. Will? Will, bist du das? Und sie dachte daran, wie Wills Stimme und sein Gesicht in Jems Gegenwart so sanft wurden wie sonst nie; wie Jem Wills Hand gehalten hatte, während Bruder Enoch die Metallsplitter aus seinem Rücken entfernte; wie Will bestürzt James! gerufen hatte, als der Klockwerk-Automat Jem zu Boden warf.
Ich kann sie nicht voneinander trennen, ihre Freundschaft nicht zerstören, dachte Tessa. Für so etwas kann ich nicht die Verantwortung übernehmen. Und ich kann keinem von beiden die Wahrheit sagen.
Vor ihrem inneren Auge stellte sie sich Jems Gesicht vor - in dem Moment, in dem sie die Verlobung lösen würde. Er würde freundlich bleiben. Jem war immer freundlich. Aber sie würde damit etwas sehr Kostbares in seinem Inneren zerstören, etwas Wesentliches. Jem würde danach nicht mehr derselbe sein und Will wäre nicht für ihn da, um ihn zu trösten. Und dabei blieb Jem doch nur noch so wenig Zeit.
Und Will? Wie würde er reagieren? Ganz gleich, was er jetzt auch denken mochte: Selbst wenn sie die Verlobung mit Jem löste, würde er sie nicht anfassen. Er würde nicht mit ihr zusammen sein, ganz gleich, wie
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