Chroniken der Unterwelt Bd. 2 City of Ashes
Wellenlinien des schimmernden Vorhangs ließen sein Gesicht länglich erscheinen und besorgt – aber vielleicht war er ja wirklich besorgt. »Als ich eben mit Isabelle sprach, da ist mir ein Gedanke gekommen. Ich habe ihr gesagt, sie könne nicht aus dem Fenster springen – und sie solle es auch nicht versuchen, weil sie sich sonst nur umbringen würde.«
Jace nickte. »Ein vernünftiger Rat vom großen Bruder.«
»Aber dann habe ich mich gefragt, ob das auch für dich gilt. Ich meine, ich habe dich Sprünge vollbringen sehen, die man fast als Fliegen bezeichnen kann. Ich war dabei, als du drei Stockwerke tief gefallen und wie eine Katze auf den Füßen gelandet bist oder wie du vom Boden auf ein Dach gesprungen bist …«
»Dieses Loblied auf meine Leistungen ist zweifellos erfreulich, aber ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Alec.«
»Ich will darauf hinaus, dass dieses Gefängnis vier Wände hat, nicht fünf.«
Jace starrte ihn an. »Dann hat Hodge also nicht gelogen, als er meinte, dass wir die Geometrie auch im Alltag gebrauchen könnten. Du hast recht, Alec. Dieser Käfig hat vier Wände. Wenn die Inquisitorin sich mit zwei begnügt hätte, dann könnte ich vielleicht …«
»JACE!«, unterbrach Alec ihn, da er allmählich die Geduld verlor. »Ich meine damit, dass dieser Käfig keinen Deckel hat. Zwischen dir und dem Dachgestühl befindet sich nur Luft.«
Jace legte den Kopf in den Nacken. Die Dachbalken schienen in schwindelerregender Höhe über ihm zu schweben und verloren sich in den Schatten. »Du bist verrückt.«
»Vielleicht«, sagte Alec. »Aber vielleicht weiß ich auch nur, wozu du fähig bist.« Er zuckte die Achseln. »Du könntest es wenigstens versuchen.«
Jace sah Alec eindringlich an und musterte dessen offenes, ehrliches Gesicht und die ruhigen blauen Augen. Er ist verrückt, dachte Jace. Es stimmte zwar, was er sagte: In der Hitze des Gefechts hatte er wirklich ein paar erstaunliche Dinge vollbracht, aber das hatten die anderen auch getan. Das lag an ihrem Schattenjägerblut, am jahrelangen Training … aber er konnte unmöglich zehn Meter aus dem Stand in die Höhe springen.
Woher willst du das wissen, wenn du es noch nie versucht hast , meldete sich eine leise Stimme in seinem Kopf.
Clarys Stimme. Jace musste an sie und ihre Runen denken, an die Stille Stadt und seine Handfessel, die einfach zersprungen war, als hätte sie einem enormen Druck nachgegeben. Er und Clary besaßen das gleiche Blut. Wenn Clary zu Dingen fähig war, die eigentlich unmöglich schienen …
Fast widerstrebend rappelte er sich auf und sah sich langsam um, um den Raum genau zu erfassen. Selbst durch den Vorhang aus silbernen Flammen konnte er die deckenhohen Spiegel und die Vielzahl unterschiedlicher Waffen an den Wänden erkennen. Er bückte sich, hob den angebissenen Apfel vom Boden, betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, holte dann aus und warf ihn so kräftig wie möglich Richtung Dach. Der Apfel segelte durch die Luft, traf auf die schimmernde Wand und explodierte in einer kreisrunden blauen Flamme.
Jace hörte, wie Alec erschrocken die Luft anhielt. Dann hatte die Inquisitorin also nicht übertrieben. Wenn er eine der Gefängnismauern zu heftig berührte, würde er tatsächlich sterben.
Alec war inzwischen aufgesprungen und schien nun zu zögern. »Jace, ich bin mir nicht mehr so sicher, ob …«
»Sei still, Alec. Und starr mich nicht so an. Das hilft mir auch nicht weiter.«
Doch was auch immer Alec darauf erwiderte – Jace konnte ihn nicht hören. Er drehte sich langsam um die eigene Achse, den Blick fest auf den Dachstuhl gerichtet. Sofort wurden die Runen aktiv, die ihm eine hervorragende Weitsicht garantierten – die Sparren schienen optisch näher zu kommen. Er konnte die abgesplitterten Kanten der Holzbalken erkennen, ihre Astlöcher und Verwachsungen, die dunkle Patina. Aber sie waren solide. Schließlich trugen sie das Dach des Instituts schon seit Hunderten von Jahren – da würden sie das zusätzliche Gewicht eines Teenagers gar nicht merken, überlegte Jace. Er dehnte seine Finger, holte langsam und bewusst tief Luft, so wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Vor seinem inneren Auge sah er sich selbst, wie er sprang, in die Höhe aufstieg, einen Balken zu fassen bekam und sich mühelos daran hochschwang. Er war leicht, sagte er sich immer wieder, leicht wie ein Pfeil, der sich seinen Weg geschmeidig durch die Lüfte bahnt, schnell und unaufhaltsam. Es war ein
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