Chroniken der Unterwelt Bd. 2 City of Ashes
diese Tatsache schmerzte mehr, als er sich jemals hätte vorstellen können.
Und als sich dann herausstellte, dass Jace Clarys Bruder war, hatte Simon sich wie ein Verurteilter gefühlt, den man vor das Erschießungskommando geführt und in letzter Sekunde begnadigt hatte. Plötzlich schien die Welt wieder voller Möglichkeiten zu stecken.
Aber jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher.
»Hi.« Jemand kam den Gang entlang, jemand nicht sehr Großes, der sich vorsichtig einen Weg zwischen den Blutspritzern hindurch suchte. »Wartest du auf Luke? Ist er da drin?«
»Eigentlich nicht.« Simon trat einen Schritt beiseite und gab die Tür frei. »Ich meine, Ja und Nein. Er ist da drin, zusammen mit jemandem, den ich kenne.«
Die Person, die auf ihn zugekommen war, blieb stehen und starrte ihn an. Simon konnte jetzt sehen, dass es sich um ein Mädchen handelte, etwa sechzehn Jahre alt, mit glatter hellbrauner Haut. Ihre braungoldenen Haare hatte sie zu Dutzenden dünner Zöpfe geflochten, die direkt über der Kopfhaut ansetzten, und ihr Gesicht wies eine fast perfekte Herzform auf. Sie hatte einen kompakten, kurvenreichen Körper, mit breiten Hüften unter einer etwas schmaleren Taille. »Der Typ aus der Bar? Dieser Schattenjäger?«
Simon zuckte die Achseln.
»Also, ich sag’s dir ja nur ungern«, schnaubte sie, »aber dein Freund ist ein Arschloch.«
»Er ist nicht mein Freund«, erwiderte Simon. »Und ich bin absolut deiner Meinung.«
»Aber ich dachte, du hättest gesagt …«
»Ich warte hier auf seine Schwester«, erklärte Simon. »Sie ist meine beste Freundin.«
»Und sie ist im Moment mit ihm da drin?« Das Mädchen zeigte mit dem Daumen auf die Tür. Sie trug mehrere Ringe an jedem ihrer Finger, primitiv wirkende, gehämmerte Bänder aus Bronze und Gold. Ihre Jeans war zerrissen, aber sauber, und als sie den Kopf drehte, sah Simon die Narbe, die sich über ihren Hals erstreckte, knapp oberhalb des Kragens an ihrem T-Shirt. »Verstehe«, sagte sie widerwillig. »Ich weiß alles über arschige Brüder. Ich schätze, es ist nicht ihr Fehler.«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte Simon. »Aber sie ist möglicherweise der einzige Mensch, auf den er vielleicht noch hört.«
»Der kam mir nicht vor wie jemand, der überhaupt zuhört«, bemerkte das Mädchen und erwiderte Simons Seitenblick. Ein Hauch von Belustigung huschte über ihr Gesicht. »Du siehst dir meine Narbe an. Das ist die Stelle, wo ich gebissen wurde.«
»Gebissen? Du meinst, du bist ein …«
»… ein Werwolf«, sagte das Mädchen. »Genau wie alle anderen hier. Vielleicht mal abgesehen von dir … und dem Arschloch. Und der Schwester des Arschlochs.«
»Aber du bist nicht immer ein Werwolf gewesen, oder? Ich meine, du wurdest nicht als solcher geboren.«
»Die wenigsten von uns kamen als Werwölfe zur Welt«, erwiderte das Mädchen. »Das unterscheidet uns auch von deinen Schattenjäger-Kumpels.«
»Was meinst du damit?«
Sie lächelte flüchtig. »Wir waren einst Menschen.«
Simon schwieg; er wusste darauf nichts zu sagen. Nach einem kurzen Moment streckte das Mädchen die Hand aus. »Ich bin Maia.«
»Simon.« Er schüttelte ihre Hand, die sich weich und trocken anfühlte. Maia schaute ihn durch ihre goldbraunen Wimpern an, die die Farbe von gebuttertem Toast besaßen. »Woher weißt du, dass Jace ein Arschloch ist?«, fragte er. »Oder sollte ich besser sagen: Wie hast du es herausgefunden?«
Maia zog ihre Hand zurück. »Er hat die Bar auf den Kopf gestellt. Meinen Freund Bat zusammengeschlagen. Und ein paar von unserem Rudel sogar bewusstlos geprügelt.«
»Geht es ihnen wieder besser?«, fragte Simon beunruhigt. Jace hatte nicht aufgeregt gewirkt, aber da Simon ihn kannte, hatte er nicht den geringsten Zweifel, dass der Schattenjäger mehrere Leute töten und anschließend in Seelenruhe Waffeln essen gehen konnte. »Hat ein Arzt nach ihnen gesehen?«
»Ein Hexenmeister«, sagte das Mädchen. »Lebewesen unseres Schlages haben mit Ärzten der Irdischen nicht viel zu schaffen …«
»Schattenwesen?«
Maia zog die Augenbrauen hoch. »Irgendjemand hat dir den gesamten Fachjargon beigebracht, stimmt’s?«
»Woher weißt du, dass ich nicht auch einer von ihnen bin?«, reagierte Simon aufgebracht. »Oder einer von euch? Ein Schattenjäger oder ein Schattenwesen oder …«
Sie schüttelte den Kopf, bis ihre Zöpfe wippten. »Das strahlst du einfach aus«, erwiderte sie leicht bitter, »deine Menschlichkeit .«
Der
Weitere Kostenlose Bücher