Chroniken der Unterwelt Bd. 2 City of Ashes
wie Nadelstiche in den Ohren. »Ausschließlich durch diesen einen Kuss und nichts anderes.«
Simon sah aus, als hätte sie ihn geschlagen. Clary wollte eine Hand nach ihm ausstrecken und ihn beruhigen, aber sie stand wie angewurzelt da – zu entsetzt, um auch nur einen Finger zu rühren.
»Warum tut Ihr das?«, fragte Jace gebieterisch.
»Ich dachte eigentlich, ich würde dir damit eine Gunst erweisen.«
Jace errötete, sagte aber nichts. Er wich Clarys Blick aus.
»Das ist lächerlich«, mischte Simon sich ein. »Die beiden sind Geschwister.«
Die Königin zuckte die Achseln – eine winzige Bewegung ihrer Schultern. »Nicht immer vermag Abscheu das Verlangen zu verringern. Genauso wenig wie es denjenigen als Huld zuteil werden kann, die es am meisten verdienen. So wie meine Worte an meinen Zauber gebunden sind, so werdet ihr die Wahrheit erfahren: Solange sie leugnet, seinen Kuss zu begehren, wird sie nicht freikommen.«
Aufgebracht stieß Simon etwas hervor, doch Clary konnte ihn nicht hören. Ihre Ohren summten, als wäre ein wütender Bienenschwarm in ihrem Kopf gefangen. Simon wirbelte zu ihr herum und sagte zornig: »Du musst das nicht tun, Clary, das ist ein Trick …«
»Kein Trick«, sagte Jace. »Ein Test.«
»Also, ich weiß ja nicht, was du willst, Simon«, warf Isabelle mit angespannter Stimme ein. »Aber ich würde Clary gerne hier rausholen.«
»Als ob du Alec küssen würdest«, konterte Simon, »nur weil die Königin des Lichten Hofs dich dazu auffordert!«
»Klar würde ich das.« Isabelle klang verärgert. »Wenn die Alternative darin besteht, für immer hier unten festzusitzen? Außerdem: Wen kümmert das schon? Es ist doch nur ein Kuss.«
»Richtig«, sagte Jace. Clary sah verschwommen aus den Augenwinkeln, wie er auf sie zuging und ihr eine Hand auf die Schulter legte, um sie zu sich zu drehen. »Es ist nur ein Kuss.« Obwohl sein Tonfall hart klang, waren seine Hände unerklärlich sanft. Sie ließ sich von ihm umdrehen und sah zu ihm auf. Seine Augen waren sehr dunkel – vielleicht wegen der gedämpften Beleuchtung im Gemach der Königin, vielleicht aus einem anderen Grund. Clary konnte ihre eigene Reflexion in seinen großen Pupillen erkennen, ein winziges Abbild ihrer selbst in seinen Augen. »Wenn du willst, schließ die Augen und denk an England«, murmelte er.
»Ich war noch nie in England«, erwiderte sie, schloss aber die Lider. Sie spürte die feuchte Schwere ihrer Kleidung kalt und kratzig auf ihrer Haut, sie roch die unangenehm süßliche, kalte Luft der Höhle, fühlte das Gewicht von Jace’ Händen auf ihren Schultern, warm und wohltuend. Und dann küsste er sie.
Zunächst spürte sie nur die sanfte Berührung seiner Lippen, ganz leicht und behutsam, und ihre eigenen Lippen öffneten sich ihm willig. Dann merkte sie, wie ihr Körper fast gegen ihren Willen weich und geschmeidig wurde, wie sie sich streckte und ihm die Arme um den Hals schlang, so wie eine Sonnenblume sich zum Licht wendet. Seine Hände umfingen sie und strichen ihr durch die Haare. Und dann veränderte sich der Kuss: In einem einzigen Moment flammte er auf, wurde heiß und verlangend, wie Zündholz, das Feuer fängt und hell auflodert. Clary hörte noch, wie ein Raunen durch die Menge ging, ein wogendes Seufzen, das jedoch im Rauschen ihres Blutes versank, in dem schwindligen Gefühl der Schwerelosigkeit, die ihren Körper erfasste.
Jace’ Hände wanderten von ihren Haaren zum Nacken und glitten ihren Rücken hinunter; sie spürte den harten Druck seiner Handflächen auf ihren Schulterblättern – und dann wich er zurück, löste sich behutsam von ihr, nahm ihre Hände von seinem Nacken und trat einen Schritt zurück. Einen Moment lang dachte Clary, sie würde fallen. Sie hatte das Gefühl, als hätte man ihr etwas Überlebenswichtiges genommen – einen Arm oder ein Bein – und starrte Jace in sprachlosem Erstaunen an. Was fühlte er? Empfand er denn gar nichts? Sie könnte es nicht ertragen, schoss es ihr durch den Kopf, wenn er nichts empfunden hätte.
Jace schaute sie an. Und als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, erkannte sie es in seinen Augen – den gleichen Blick wie in Renwicks Ruine, als er zusehen musste, wie das Portal, der Weg in seine Heimat, unwiederbringlich in Tausende von Scherben zersplitterte. Für den Bruchteil einer Sekunde erwiderte er ihren Blick … und schaute dann weg. Die Muskeln in seiner Kehle traten deutlich hervor und seine Hände waren zu Fäusten
Weitere Kostenlose Bücher