Chroniken der Unterwelt Bd. 2 City of Ashes
gestarrt und an seinen Vater gedacht hatte. Die Maryse, die an seinem Bett sitzen geblieben war, bis er kurz vor der Morgendämmerung endlich einschlief.
»Ich habe es wirklich nicht gewusst«, erklärte Jace erneut.
»Und als er mich aufgefordert hat, ihn nach Idris zu begleiten, habe ich abgelehnt. Ich bin noch immer hier. Zählt das denn gar nicht?«
Maryse drehte sich zur Seite und schaute auf die Karaffe, als zöge sie ein weiteres Glas Wein in Erwägung. Doch dann schien sie den Gedanken zu verwerfen.
»Ich wünschte, es wäre so«, sagte sie. »Aber es gibt so viele Gründe, warum dein Vater dich weiterhin hier im Institut wissen möchte. Solange es um Valentin geht, kann ich es mir nicht erlauben, irgendjemandem zu trauen, der unter seinem Einfluss gestanden hat.«
»Du hast auch unter seinem Einfluss gestanden«, sagte Jace und bereute es sofort, als er den Ausdruck sah, der sich auf ihrem Gesicht ausbreitete.
»Und ich habe mich von ihm abgekehrt«, erwiderte Maryse.
»Hast du das auch getan? Könntest du das?« Ihre blauen Augen hatten die gleiche Farbe wie Alecs Augen, aber Alec hatte ihn noch nie auf diese Weise angesehen. »Sag mir, dass du ihn hasst, Jace. Sag mir, du hasst diesen Mann und alles, wofür er
steht.«
Es verging ein Moment … und ein weiterer, während Jace auf seine Hände schaute, die so fest zusammengeballt waren, dass die Fingerknöchel weiß und hart wie Fischgräten heraus stachen. »Das kann ich nicht.«
Maryse hielt geräuschvoll den Atem an. »Warum nicht?« »Warum kannst du nicht sagen, dass du mir vertraust? Ich habe fast mein halbes Leben mit dir unter einem Dach verbracht. Du musst mich inzwischen doch gut genug kennen, um zu wissen, dass ich so was niemals tun würde?«
»Du klingst so aufrichtig, Jonathan. So hast du früher schon geklungen, auch als kleiner Junge, wenn du versucht hast, die Schuld für eine deiner Missetaten Isabelle oder Alec in die Schuhe zu schieben. Ich habe in meinem Leben bisher nur einen Menschen kennengelernt, der genauso überzeugend klingen konnte wie du.«
Jace schmeckte einen kupferartigen Geschmack im Mund.
»Du meinst meinen Vater.«
»Für Valentin gab es immer nur zwei Sorten von Menschen auf der Welt«, sagte Maryse. »Diejenigen, die für den Kreis waren, und diejenigen, die sich gegen ihn stellten. Letztere waren seine erklärten Feinde und die ersteren bildeten die Waffen in seinem Arsenal. Ich habe gesehen, wie er versucht hat, jeden seiner Freunde, sogar seine eigene Frau, in eine Waffe für seine Zwecke zu verwandeln – und jetzt verlangst du von mir, ich soll dir glauben, dass er nicht auch das Gleiche bei seinem eigenen Sohn versucht hat?« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kenne ihn besser.« Zum ersten Mal sah Maryse Jace mit einem Blick an, aus dem mehr Trauer als Wut sprach. »Du bist ein Pfeil, der direkt ins Herz des Rats geschossen wurde, Jace. Du bist Valentins Pfeil. Ob du es nun weißt oder nicht.«
Clary schloss die Zimmertür, hinter der der Fernseher plärrte, und machte sich auf die Suche nach Simon. Sie fand ihn in der Küche. Er stand über die Spüle gebeugt, in der das Wasser lief, und stützte sich auf den Rand des Beckens.
»Simon?« Die Küche leuchtete in einem warmen, heiteren Gelbton und an den Wänden hingen gerahmte Malkreide- und Buntstiftzeichnungen, die Simon und Rebecca in der Grundschule angefertigt hatten. Rebecca besaß eine gewisse künstlerische Ader, das konnte man erkennen; aber Simons Skizzen von Menschen sahen alle aus wie Parkuhren mit Haarbüscheln.
Er schaute nicht auf, als Clary hereinkam, aber sie konnte an der Anspannung seiner Schultermuskeln sehen, dass er sie gehört hatte. Sie ging zu ihm und legte ihm vorsichtig eine Hand auf den Rücken. Durch das dünne Baumwoll-T-Shirt spürte sie die scharfen Knochen seiner Wirbelsäule und fragte sich, ob er abgenommen hatte. Auf den ersten Blick konnte sie keinen Gewichtsverlust an ihm erkennen, aber wenn sie Simon betrachtete, war das so, als würde sie in einen Spiegel schauen: Wenn man jemanden tagtäglich sieht, nimmt man kleine Veränderungen im Erscheinungsbild nicht immer wahr. »Alles in Ordnung?«, fragte Clary.
Mit einer ruckartigen Handbewegung drehte Simon den Wasserhahn zu. »Klar. Mir geht’s gut.«
Behutsam legte sie ihm einen Finger ans Kinn und drehte sein Gesicht zu sich. Er schwitzte; seine dunklen Haare klebten ihm feucht an der Stirn, obwohl die Luft, die durch
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