Chroniken der Unterwelt Bd. 2 City of Ashes
Gott allein wusste, was diese Leute mit einem Werwolf anstellen würden.
Es hatte ihr keine großen Schwierigkeiten bereitet, ein Rudel zu finden, dem sie sich anschließen konnte. Allein in Manhattan gab es bereits mehrere. Schließlich war sie bei dem Innenstadtrudel gelandet, das in der alten Polizeiwache in Chinatown hauste.
Die Anführer des Rudels kamen und gingen. Zuerst war Kito der Leitwolf gewesen, dann Veronique, danach Gabriel und nun Luke. Maia hatte Gabriel zwar gemocht, aber Luke war noch besser. Er wirkte vertrauenswürdig, hatte freundliche blaue Augen und sah nicht allzu attraktiv aus, sodass er ihr nicht schon vom ersten Moment an zuwider war. Eigentlich fühlte sie sich ganz wohl hier bei diesem Rudel. Es gefiel ihr, in der alten Polizeiwache zu schlafen, Karten zu spielen und chinesisches Essen zu vertilgen – in den Nächten, wenn der Mond der Sonne nicht genau gegenüberstand. Und bei Vollmond genoss sie es, im Park zu jagen und am nächsten Tag den Kater, den die Verwandlung mit sich brachte, im Blutmond , auszukurieren, einer der besseren Werwolfbars in der Stadt. Dort floss das Bier in Strömen und niemand kontrollierte, ob man schon volljährig war oder nicht. Das Dasein als Lykanthrop sorgte dafür, dass man schnell erwachsen wurde – und solange man einmal im Monat Fell und Fangzähne entwickelte, war man im Blutmond immer willkommen, ganz gleich welchen Alters.
Inzwischen dachte Maia nur noch selten an ihre Familie, doch als der blonde Junge mit dem langen schwarzen Mantel in die Bar stolziert kam, erstarrte sie fast zur Salzsäule. Er sah zwar nicht aus wie Daniel – ihr Bruder hatte dunkle, lockige Haare und eine honigfarbene Haut gehabt, und dieser Typ hier strahlte vor Weiß und Gold. Aber sie besaßen den gleichen schlanken Körperbau, den gleichen Gang – wie ein Panther auf der Jagd – und das gleiche absolute Vertrauen in ihre eigene Attraktivität. Maias Hand schloss sich krampfartig um den Stiel ihres Glases und sie musste sich selbst ermahnen: Er ist tot. Daniel ist tot.
Als der Junge sich auf die Theke zubewegte, ging ein Raunen durch die Bar und folgte ihm wie die Schaumkrone einer Woge im Kielsog eines Schiffs. Der Junge tat so, als würde er nichts bemerken, zog mit dem Stiefel einen Barhocker zu sich heran, setzte sich und stützte die Ellbogen auf die Theke. Maia hörte, wie er in der Stille, die nach dem Murmeln ausgebrochen war, einen Single Malt bestellte. Mit einer raschen Handbewegung kippte er den Whisky, der die gleiche goldene Farbe besaß wie seine Haare, zur Hälfte hinunter. Als er das Glas wieder auf der Theke abstellte, entdeckte Maia die dicken schwarzen und geschwungenen Linien auf seinen Handgelenken und Händen.
Bat, der Typ, der neben ihr saß und mit dem sie früher mal zusammen gewesen, jetzt aber nur noch gut befreundet war, murmelte irgendetwas, das wie »Nephilim« klang.
Ach, das war es also. Der Junge war überhaupt kein Werwolf. Er war ein Schattenjäger, ein Mitglied der Geheimpolizei der Verborgenen Welt. Sie traten als Hüter des Gesetzes auf, im Auftrag des Abkommens, und man konnte nicht einfach einer von ihnen werden: Man musste als Schattenjäger geboren werden – ihr Blut machte sie zu dem, was sie waren. Es kursierten ziemlich viele Gerüchte über sie und die meisten waren nicht sehr schmeichelhaft: Sie galten als hochmütig, stolz, grausam und es hieß, dass sie auf alle Schattenwesen hinabschauten oder sie sogar verachteten. Es gab kaum etwas, das ein Lykanthrop noch weniger mochte als Schattenjäger – von Vampiren vielleicht mal abgesehen, dachte Maia.
Die Leute erzählten sich außerdem, dass Schattenjäger Dämonen töteten. Maia erinnerte sich an den Moment, als sie zum ersten Mal von der Existenz der Dämonen hörte und erfuhr, was sie anrichteten. Das hatte ihr ziemliches Kopfzerbrechen bereitet. Vampire und Werwölfe waren einfach nur Menschen mit einer Erkrankung – so viel hatte sie inzwischen verstanden. Aber erwartete man wirklich von ihr, dass sie an diesen ganzen Schwachsinn von Himmel und Hölle glaubte, an Dämonen und Engel, obwohl niemand ihr mit Sicherheit sagen konnte, ob es überhaupt einen Gott gab oder was nach dem eigenen Tod passierte? Das war nicht fair. Allerdings glaubte sie inzwischen durchaus an Dämonen – sie hatte so oft gesehen, wozu sie fähig waren, dass sie ihre Existenz nicht länger leugnen konnte. Aber sie wünschte, sie müsste sich nicht mit ihnen befassen.
»Ich nehme mal
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