Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
die Frage aufwarf: Wie war das möglich?
»Nein, das habe ich nicht empfunden«, sagte sie schließlich.
Die Wut, die abrupt, düster und unbeherrscht in seinen Augen aufflammte, überrumpelte sie. Im nächsten Moment packte er ihre Handgelenke und hielt sie eisern fest. »Das ist nicht wahr!«
Clary versuchte, sich ihm zu entziehen. »Sebastian …«
»Das ist nicht wahr.« Das Schwarz in seinen Augen schien seine Pupillen zu verschlingen und sein Gesicht wirkte wie eine weiße Maske, starr und steif.
»Sebastian«, sagte Clary so ruhig wie nur möglich. »Du tust mir weh.«
Widerstrebend ließ er sie los. Seine Brust hob und senkte sich in raschem Wechsel. »Tut mir leid«, stieß er hervor. »Es tut mir leid. Ich dachte …«
Ja, aber da hast du dich geirrt, dachte Clary, sprach die Worte aber nicht laut aus. Sie hatte keine Lust, noch einmal diesen Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen. »Wir sollten zurückreiten«, sagte sie stattdessen. »Es wird bald dunkel werden.«
Benommen nickte er, scheinbar genauso bestürzt über seinen Wutausbruch wie sie. Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zu Wayfarer zurück, der im langen Schatten eines Baumes etwas Gras rupfte.
Clary zögerte einen Moment und folgte ihm dann - sie hatte nicht den Eindruck, dass ihr irgendeine andere Wahl blieb. Verstohlen blickte sie auf ihre Hände hinab: Die Gelenke waren stark gerötet von seinem eisernen Griff- aber viel merkwürdiger erschien ihr die Tatsache, dass ihre Fingerspitzen schwarz verschmiert waren, als hätte sie mit Tinte herumgekleckst.
Sebastian schwieg, während er ihr auf Wayfarers Rücken half »Tut mir leid, dass ich Jace irgendetwas unterstellt habe«, sagte er schließlich, nachdem er sich hinter ihr in den Sattel geschwungen hatte. »Er würde nichts unternehmen, was dir wehtun könnte. Ich weiß, dass er den Vampir im Gefängnis der Garnison nur deinetwegen besucht…«
In diesem Moment hatte Clary das Gefühl, als würde die Welt ruckartig stehen bleiben. Sie hörte ihren eigenen pfeifenden Atem und sah ihre Hände, die erstarrt wie die steinernen Hände einer Statue auf dem Sattelknauf ruhten. »Ein Vampir? Im Gefängnis?«, flüsterte sie.
Sebastian warf ihr einen überraschten Blick zu. »Ja«, bestätigte er, »Simon, dieser Vampir, den die Lightwoods aus New York mitgebracht haben. Ich dachte… das heißt, ich war mir sicher, dass du davon wüsstest. Hat Jace dir das denn nicht erzählt?«
8
E INER D ER L EBENDEN
Simon erwachte, als ein Sonnenstrahl auf sein Gesicht fiel. Als er die Augen öffnete, konnte er erkennen, dass das Licht von einem glitzernden Objekt, das zwischen den Gitterstäben des Zellenfensters hindurchgeschoben worden war, reflektiert wurde. Müde und mit einem quälenden Hungergefühl rappelte er sich auf und stellte fest, dass es sich bei dem Gegenstand um eine Metallflasche handelte, etwa von der Größe einer Thermoskanne. Ein zusammengerolltes Stück Papier war am Hals der Flasche befestigt. Simon riss die Nachricht ab, faltete sie auseinander und las:
Simon, das ist Rinderblut, frisch vom Metzger. Ich hoffe, das ist okay. Jace hat mir erzählt, was du gesagt hast, und ich möchte, dass du weißt, dass ich das wirklich tapfer finde. Halt durch - wir werden uns einen Weg ausdenken, wie wir dich da rausholen.
XOXOXOXOXOXOX Isabelle
Simon lächelte, als er die von Hand geschriebenen X und 0 am unteren Rand des Papiers sah. Es war schön zu wissen, dass Isabelles überschwängliche Zuneigung unter den derzeitigen Umständen nicht gelitten hatte. Hungrig schraubte er den Deckel von der Flasche und trank begierig, als er plötzlich einen stechenden Schmerz zwischen den Schulterblättern spürte und herumwirbelte.
In der Mitte der Zelle stand Raphael, mit angespannten Schultern, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er trug ein gestärktes, frisch gebügeltes weißes Hemd unter einer dunklen Jacke und an seiner Kehle glitzerte eine Goldkette.
Simon hätte den Schluck Blut, den er gerade genommen hatte, fast wieder ausgespuckt. Er schluckte ein paarmal und starrte Raphael bestürzt an. »Du … du kannst unmöglich hier sein«, stieß er hervor.
Raphael schenkte ihm ein Lächeln, das den irreführenden Eindruck erweckte, als wären seine Eckzähne zum Vorschein gekommen. »Nur keine Panik, Tageslichtler!«
»Ich bin absolut nicht panisch«, erwiderte Simon, obwohl das nicht stimmte. Er hatte ein Gefühl, als hätte er etwas
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