Chroniken der Unterwelt Bd. 4 City of fallen Angels
vorstellen.« Seine Mutter erhob sich aus dem Sessel; sie war schon immer sehr dünn gewesen, doch jetzt wirkte sie regelrecht hager und ihre dunklen Haare waren von deutlich mehr grauen Strähnen durchzogen, als er in Erinnerung hatte. »Komm mal mit, junger Mann. Und zwar sofort.«
Verwirrt folgte Simon ihr in die kleine, leuchtend gelbe Küche, wo seine Mutter abrupt stehen blieb und auf die Küchentheke zeigte. »Kannst du mir das mal erklären?«
Simon bekam mit einem Mal einen trockenen Mund. Auf der Theke standen wie Zinnsoldaten die Flaschen mit Blut aufgereiht, die er in seinem Mini-Kühlschrank in den Tiefen seines Kleiderschranks aufbewahrt hatte. Eine war halb leer, die anderen noch bis zum Rand gefüllt; die rote Flüssigkeit darin schimmerte anklagend. Seine Mutter hatte außerdem die Blutbeutel gefunden, die er ausgespült und sorgfältig in eine Plastiktüte gestopft hatte, ehe er sie in der Mülltonne versenkt hatte. Auch sie lagen ausgebreitet auf der Küchentheke wie eine groteske Dekoration.
»Ich hab erst gedacht, das wäre Wein«, sagte Elaine Lewis mit zittriger Stimme. »Aber dann habe ich die Beutel gefunden. Also habe ich eine der Flaschen geöffnet. Das ist Blut. Stimmt’s?«
Simon schwieg. Scheinbar hatte er seine Stimme verloren.
»In letzter Zeit hast du dich sehr merkwürdig verhalten«, fuhr seine Mutter fort. »Du bleibst bis tief in die Nacht fort, isst nichts, schläfst kaum, triffst dich mit Freunden, die ich nicht kenne, von denen ich noch nicht einmal gehört habe. Glaubst du wirklich, ich merke es nicht, wenn du mich belügst? Das tue ich sehr wohl, Simon. Anfangs hab ich gedacht, du würdest vielleicht Drogen nehmen.«
Plötzlich fand Simon seine Stimme wieder: »Dann hast du also mein Zimmer durchsucht?«
Seine Mutter errötete. »Das musste ich doch! Ich dachte … ich dachte, wenn ich dort Drogen finde, dann könnte ich dir helfen … dich vielleicht in einem Entzugsprogramm unterbringen. Aber das hier?« Aufgebracht zeigte sie auf die Flaschen. »Ich weiß ja nicht einmal, was ich davon halten soll. Was geht hier vor, Simon? Hast du dich irgendeiner Sekte angeschlossen?«
Simon schüttelte den Kopf.
»Dann erzähl es mir«, sagte seine Mutter mit bebender Unterlippe. »Denn die einzigen Erklärungen, die mir selbst einfallen, sind alle grässlich und pervers. Bitte, Simon …«
»Ich bin ein Vampir«, erwiderte Simon. Er hatte keine Ahnung, wie er das gesagt hatte oder warum. Aber jetzt war es heraus. Die Worte hingen wie eine Giftwolke zwischen ihnen in der Luft.
Seiner Mutter schienen die Knie zu versagen und sie sank auf einen der Küchenstühle. »Was hast du gerade gesagt?«, hauchte sie fassungslos.
»Ich bin ein Vampir«, wiederholte Simon. »Schon seit etwa zwei Monaten. Tut mir leid, dass ich es dir nicht schon eher gesagt habe, aber ich wusste einfach nicht, wie.«
Elaine Lewis war kreidebleich im Gesicht. »Es gibt keine Vampire, Simon.«
»Doch«, widersprach er, »es gibt sie sehr wohl. Hör zu, Mom, ich hab nicht darum gebeten, in einen Vampir verwandelt zu werden. Ich bin angegriffen worden; ich hatte keine Chance. Wenn ich könnte, würde ich es sofort rückgängig machen.« Seine Gedanken kehrten zu der Broschüre zurück, die ihm Clary vor so langer Zeit in die Hand gedrückt hatte — das Infoblatt zum Thema »Wie oute ich mich gegenüber meinen Eltern«. Damals hatte er den Vergleich lustig gefunden, doch inzwischen war ihm das Lachen vergangen.
»Du glaubst nur, du wärst ein Vampir«, sagte Simons Mutter benommen. »Du glaubst, du würdest Blut trinken.«
»Nein, ich trinke tatsächlich Blut. Tierblut«, erklärte Simon.
»Aber du bist doch Vegetarier.« Seine Mutter sah aus, als würde sie mit den Tränen kämpfen.
»Das war ich mal. Aber jetzt nicht mehr. Weil das nicht mehr möglich ist: Blut ist das Einzige, was mich am Leben hält.« Simon spürte einen Kloß im Hals. »Ich habe noch nie jemandem wehgetan. Und ich würde niemals das Blut eines anderen Menschen trinken. Ich bin immer noch dieselbe Person. Ich bin immer noch ich.«
Seine Mutter schien um Fassung zu ringen. »Deine neuen Freunde … sind das auch Vampire?«
Simon dachte an Isabelle, Maia, Jace. Er konnte seiner Mutter unmöglich die Existenz von Schattenjägern und Werwölfen erklären. Es wäre einfach zu viel gewesen. »Nein, aber sie wissen, dass ich einer bin«, erwiderte er bedächtig.
»Haben … haben sie dir Drogen gegeben? Haben sie dich gezwungen,
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