Chroniken der Unterwelt Bd. 4 City of fallen Angels
sein.
Aber es konnte doch nicht normal sein, dass man jemanden tötete, noch dazu den eigenen Stiefbruder, und nichts dabei empfand.
Ich werde nicht wie er sein.
Sein Vater hatte ihn gelehrt, es sei eine Tugend, ohne Gnade zu töten, und vielleicht konnte man das, was einem die eigenen Eltern beigebracht hatten, ja nicht mehr vergessen. Ganz gleich, wie sehr man es sich auch wünschte.
Ich werde nicht wie er sein.
Vielleicht konnten sich die Menschen ja doch nicht wirklich ändern.
Nein, niemals.
4
DIE KUNST DER ACHT GLIEDMASSEN
Hier liegen bewahrt
die Begehren großer Herzen
und edle Dinge, die die Zeit überdauern,
das magische Wort, das geflügelte Wunder bewirkt,
die gesammelte Weisheit, die niemals verstirbt.
Diese Worte waren neben dem Eingangsportal der Stadtbibliothek von Brooklyn am Grand Army Plaza in den Stein gemeißelt. Simon saß auf den Eingangsstufen und schaute zur Fassade hinauf. Die Inschriften glitzerten wie dunkles Gold vor dem hellen Hintergrund der Steinplatten und jedes Wort erwachte flüchtig zum Leben, wenn das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Fahrzeuge darüberhuschte.
Als kleiner Junge hatte die Bibliothek immer zu Simons Lieblingsorten gezählt. Um die Ecke befand sich ein eigener Eingang für Kinder, wo er sich jahrelang jeden Samstag mit Clary getroffen hatte. Gemeinsam hatten sie einen Stapel Bücher abgeholt und waren dann zum nahe gelegenen Botanischen Garten gelaufen, wo sie stundenlang geschmökert hatten, lang ausgestreckt im Gras, begleitet vom ständigen Rauschen des Verkehrs.
Heute Abend war sich Simon allerdings nicht sicher, was ihn hierhergebracht hatte. Er hatte zugesehen, dass er möglichst schnell von zu Hause fortkam, nur um dann festzustellen, dass er nirgends hinkonnte. Zu Clary wollte er nicht — sie würde nur entsetzt reagieren, wenn sie erfuhr, was er getan hatte, und darauf bestehen, dass er umkehrte und alles wieder in Ordnung brachte. Eric und die anderen würden es gar nicht erst kapieren. Jace mochte ihn nicht und außerdem konnte er sowieso nicht ins Institut. Bei dem Gebäude handelte es sich um eine Kirche und einer der wichtigsten Gründe dafür, dass die Nephilim überhaupt dort lebten, bestand nun mal darin, Kreaturen wie ihn draußen zu halten. Nach langem Grübeln war er schließlich darauf gekommen, an wen er sich tatsächlich wenden konnte, aber die Vorstellung war derart unangenehm, dass es geraume Zeit gedauert hatte, bis er sich ein Herz fasste und dann tatsächlich zum Telefon griff.
Nun hörte er das Motorrad, noch bevor es in Sicht kam; das laute Röhren des Motors durchschnitt das schwache Rauschen des abendlichen Verkehrs am Grand Army Plaza. Die Maschine raste über die Kreuzung auf den Gehweg, bäumte sich dann auf und schoss die Stufen hinauf. Simon ging rasch einen Schritt beiseite, als das Motorrad federleicht neben ihm landete und Raphael die Hände vom Lenker nahm.
Sofort erstarb die Maschine. Vampirmotorräder wurden mit Dämonenenergie betrieben und reagierten wie Haustiere auf die Wünsche ihrer Besitzer. Simon fand sie irgendwie unheimlich.
»Du wolltest mich sprechen, Tageslichtler?«, fragte Raphael, elegant wie immer in schwarzer Jacke und teurer Designer-Jeans. Geschmeidig stieg er ab und lehnte das Motorrad gegen das Treppengeländer. »Du hast hoffentlich einen verdammt guten Grund, mich hierher zu bestellen«, fügte er hinzu. »Schließlich musste ich den ganzen weiten Weg bis nach Brooklyn auf mich nehmen. Und Raphael Santiago gehört nicht in die Vorstadt.«
»Na, großartig. Jetzt redest du von dir selbst schon in der dritten Person. Und das ist ja kein Anzeichen für sich anbahnenden Größenwahn oder so was …«
Raphael zuckte die Achseln. »Du kannst mir jetzt entweder sagen, was du von mir willst, oder ich verschwinde wieder. Das liegt ganz bei dir.« Demonstrativ schaute er auf seine Armbanduhr. »Du hast genau dreißig Sekunden.«
»Ich hab meiner Mutter gesagt, dass ich ein Vampir bin.«
Raphaels Augenbrauen hoben sich ruckartig; sie wirkten sehr dünn und sehr dunkel. In weniger großmütigen Momenten fragte Simon sich manchmal, ob er sich die Augenbrauen vielleicht nachzog. »Und, was ist dann passiert?«, erkundigte Raphael sich.
»Sie hat mich als Monster bezeichnet und versucht, mich mit Gebeten zu verbannen.« Die Erinnerung daran ließ ihm den Geschmack von schalem Blut in die Kehle steigen.
»Und dann?«
»Und dann bin ich mir nicht sicher, was genau passiert ist. Ich habe
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