Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
sich ein winziger Spalt auf. Sie quetschte ihren Schnabel hinein und verwendete ihn als Hebel. Mit einem knackenden Geräusch fiel die Schale herunter.
Neugierig blickte Wilma ins Innere des Kastens. Was darin war, erinnerte tatsächlich ein wenig an Würmer, nur, dass diese seltsam leblos aussahen.
»Hast du es aufbekommen? «, fragte die Stimme aus ihrem Tornister.
»Ja, auf«, piepste Wilma. »Ei auf. Würmer komisch.«
»Ja, leider sind sie nicht zum Essen«, sagte der Vogel ohne Beine. »Bis du einen echten bekommst, musst du dich noch etwas gedulden. Zuerst mal müssen wir das drehende Ding ausschalten. Die bunten Würmer versorgen den Propeller mit Energie. Alle haben verschiedene Farben, kannst du das erkennen?«
»Ja, unterschiedliche Farben. Wilma sehen.«
»Gut. Einer von ihnen ist besonders wichtig. Er ist rot. Ein roter Wurm.«
Wilma blickte unschlüssig zwischen den Würmern hin und her. Rot. Was war doch gleich rot?
Livanos schien ihre Gedanken zu erraten. »Hast du schon einmal eine Erdbeere gegessen, Wilma?«
»Erdbeere, ja. Sehr gut. Wilma hungrig.«
»Später. Erst mal die Würmer. Hat einer von ihnen die Farbe einer Erdbeere?«
»Jetzt sehen. Roter Wurm.«
»Sehr gut. Pack ihn mit deinem Schnabel. Zieh an ihm, so fest du kannst. Du musst ihn aus der Halterung lösen. Vielleicht hilft es, wenn du dich mit deinen Füßen dagegenstemmst. Meinst du, du schaffst es?«
»Sehen werden.«
»Das ist der schwierigste Teil deiner Aufgabe, Wilma. Wenn du das geschafft hast, ist der Rest ein Kinderspiel. Ich verspreche dir, dass du danach einen ganzen Sack feinster Tiefseewürmer geschenkt bekommst.«
Die Aussicht auf so einen schmackhaften Imbiss ließ Wilma das Wasser im Schnabel zusammenlaufen. Mit Feuereifer machte sie sich ans Werk.
Es dauerte eine ganze Weile, bis aus Humboldts Linguaphon die erlösenden Worte erklangen.
»Wilma geschafft.«
Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Runde. Alle hingen wie gebannt an dem Funkgerät und lauschten den Worten des Kiwis. Oskar konnte kaum glauben, wie intelligent dieser kleine Vogel war. Die Spezialnahrung hatte wirklich Wunder bewirkt.
»Sehr gut«, sagte Livanos über Funk. »Der Propeller müsste jetzt langsamer werden.«
»Flügel müde«, lautete die Antwort.
»Prima. Warte, bis er ganz ruhig ist, dann zwäng dich hindurch und geh in den Raum dahinter.«
Wieder dauerte es eine Weile, ehe die Nachricht kam: »Wilma auf der anderen Seite.«
»Was siehst du?«
»Großes leeres Nest. Nur zwei Sitzstangen und graues Ei. Viele leuchtende Augen.«
Oskar runzelte die Stirn. »Augen?«
»Leuchtende Knöpfe«, erläuterte Humboldt. »Ein Schaltpult.«
»Kommst du an das Ei heran?«, fragte Livanos.
»Nein. Zu hoch.«
»Versuch’s mal mit den Sitzstangen. Kannst du sie bewegen?«
»Was denn für Sitzstangen?«, wunderte sich Oskar.
»Stühle«, antwortete Eliza. »Aber leise jetzt. Ich glaube, da tut sich etwas.«
Oskar hörte, wie etwas geschoben wurde. Es quietschte und kratzte, dann gab es einen kurzen Tonaussetzer.
»Wilma?« Humboldt presste das Linguaphon an seine Lippen. »Wilma, kannst du mich hören?«
»Wilma oben. Jetzt näher an leuchtenden Augen.«
»Gut. Sehr gut«, sagte Livanos. »Und jetzt pass auf. Manche von den Augen sind böse. Du musst sie totpicken. Ich werde dir sagen, auf welche es ankommt. Fertig? Dann los!«
53
Schlagartig gingen in den Gefangenenquartieren die Lampen aus. Gedämpftes Licht schimmerte von draußen durch die Kuppel herein. Oskar konnte Schwärme von Fischen sehen, die neugierig um die Kuppel schwammen. Ein dumpfes Knacken war zu hören. Entlang der Tür hatte sich ein Spalt gebildet, der rasch größer wurde.
»Die Tür ist offen«, flüsterte Charlotte. »Die Verriegelung ist zurückgeschnappt.«
»Die Türsperren sind magnetisch«, erwiderte Livanos. »Bei Stromausfall bricht das ganze System zusammen. Das betrifft übrigens auch die angrenzenden Räume. Wenn Wilma alles richtig gemacht hat, dürften Sie jetzt ungehinderten Zugang zur Werkhalle haben.«
»Und wie geht’s dann weiter?«
»Sie müssen Daron abschalten.«
»Das ist mir bewusst, aber wie sollen wir das anstellen? Die Differenzmaschine ist weit weg und an einem Ort, der rundherum von Wasser umgeben ist. Außerdem glaube ich nicht, dass sie völlig ungeschützt ist.«
»Da haben Sie allerdings recht. Sie werden Hilfe brauchen. Der einzige Weg, an sie heranzukommen, führt durchs Meer. Ich muss
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