Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
später …
Die Klippen von Santorin ragten wie Drachenzähne aus dem Meer, ein Anblick, der Oskar mit einer Mischung aus Vorfreude und Sorge erfüllte. Zerklüftet, zerfetzt, auseinandergesprengt, Mahnmal einer urwüchsigen und zerstörerischen Naturgewalt. Bei ihrer Ankunft hatte der Kapitän ein langes Signal auf der Dampfpfeife hören lassen, dann war die Calypso langsamer geworden. Die Schwungräder hatten aufgehört zu rotieren, der Kessel hatte an Druck verloren. Das Zischen, Jaulen und Stampfen der Turbine war in der unendlichen Weite der See verhallt.
Dann war es still geworden.
Die Heizer hatten sich endlich ein paar Stunden Ruhe gönnen können, während die Forscher sogleich ans Werk gingen, die Nautilus für den nächsten Tauchgang vorzubereiten. Der Probelauf vor Antikythira war ausgesprochen vielversprechend gewesen, sodass Rimbault entschieden hatte, in größere Tiefen vorzustoßen. Die Dichtungen wurden verstärkt und die Ventile erneuert, dann ging es los. Diesmal durften Charlotte und Eliza teilnehmen, während Humboldt und Oskar die Fahrt von Bord aus verfolgten. Der Überwachungsraum lag unterhalb der Wasserlinie und war an beiden Seiten mit Bullaugen versehen, die einem gestatteten, einen Blick in die seltsame Unterwasserwelt zu werfen.
Humboldt erklärte Oskar, dass die Calypso über eine höchst interessante Erfindung verfügte, nämlich über ein sogenanntes Sonar. Es handelte sich dabei um ein verbessertes Echolot, das mittels Schallwellen unter Wasser sehen konnte. Ein Ton wurde ausgesandt, der, sobald er auf ein Hindernis traf, reflektiert wurde. Mittels der Zeitdauer und der Richtung, aus der die Schallwellen zum Forschungsschiff zurückkehrten, ließ sich ein ungefähres Bild der Umgebung erstellen. Mechanische Arme zeichneten ein Profil des Meeresbodens aufs Papier, das immer detaillierter wurde, je länger das Sonar seinen Dienst verrichtete. Die Technologie war brandneu, basierte aber auf einer Idee, die Leonardo da Vinci bereits 1490 zu Papier gebracht hatte. Rimbault, der den Florentiner Erfinder über alle Maßen bewunderte, hatte die Erfindung verfeinert und in die Calypso eingebaut. Sie war damit das erste Forschungsschiff weltweit, das über eine solche Technologie verfügte.
Dann ging es los. In einer endlosen Folge von Tauchgängen und Sonarmessungen wurde der Meeresboden überprüft, auf der Suche nach dem sagenumwobenen Seeungeheuer, das die Kornelia in die Tiefe gezogen haben sollte. Wieder und wieder versuchten sie ihr Glück, doch sie fanden nichts.
Die Tage fingen an, sich in die Länge zu ziehen. Die Sonne brannte vom Himmel, sodass es beinahe unmöglich war, tagsüber an Deck zu gehen. Das Eisen schien zu glühen. Auch der Wind brachte keine echte Kühlung. Eine trostlose Stille breitete sich aus, die sich lähmend auf die Besatzung und die Passagiere legte. Alle hingen lustlos an Deck herum, badeten oder verkrochen sich in ihre Kabinen, wo sie stundenlang im Halbschlaf lagen. Humboldt war die einzige Ausnahme. Den Forscher hatte eine merkwürdige Angespanntheit erfasst. Er wurde immer unruhiger und gereizter. Jedes kleine Missgeschick hatte einen sofortigen Wutausbruch zur Folge, sodass Oskar es vorzog, sich möglichst wenig in der Nähe des Forschers aufzuhalten. Auch Océanne ging ihm auf die Nerven. Ihre fortwährenden Avancen waren eine echte Belastung, zumal Charlotte zunehmend allergisch darauf reagierte. Mehr als einmal schon hatte ihm die Nichte des Forschers die Tür vor der Nase zugeschlagen. Zufälligerweise hatte sie immer, wenn er mit ihr reden wollte, etwas anderes zu tun. So verbrachte er viel Zeit mit Clement.
Der Maschinist, der ihn vor den Schlägern gerettet hatte, kannte die Calypso wie seine Westentasche. Er zeigte ihm das Schiff vom Kiel bis zur Mastspitze und nahm ihn sogar ein paarmal mit auf die Insel Thera, um Proviant und Frischwasser zu bunkern. Im Gegenzug erzählte Oskar ihm alles über ihren Auftrag. Der Maschinist war ein guter Zuhörer und Oskar freute sich, dass er endlich jemanden hatte, den es interessierte, was er zu sagen hatte.
Doch irgendwann war alles gesehen und alles getan. Die Eintönigkeit holte ihn wieder ein.
Es war der Abend des zwanzigsten Juli, als die Gesellschaft sich auf dem Achterdeck versammelte und auf das spiegelglatte Meer hinausblickte. Die Sonne war eben hinter der gezackten Silhouette Theras versunken und warf bernsteinfarbenes Licht über das Wasser. Erste Sterne begannen am Himmel zu
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