Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
der Führung hatte Livanos etwas Besonderes für sie auserkoren. Er wollte nicht verraten, was es war, aber Oskar brauchte nicht lange, um es herauszufinden.
Sie hatten ein kurzes Stück auf dem Meeresboden zurückgelegt, als plötzlich und ganz unvermutet einige weiße Säulen auftauchten. Zuerst dachte sich Oskar nichts dabei, doch als es immer mehr wurden, war seine Neugier geweckt. Immer häufiger tauchten jetzt Gebäudereste auf. Manche aufrecht, die meisten jedoch umgefallen oder verstreut auf dem Grund. Es war klar, dass sie alt waren. Älter, als man auf den ersten Blick erkennen konnte. Vielleicht sogar aus der Epoche, aus der auch das prächtige Portal am Thronsaal stammte.
Immer mehr Gebäude erschienen im Dämmerlicht der Lampen. Manche bis zur Unkenntlichkeit zerstört, andere wiederum völlig intakt. Dazwischen lagen Dutzende von Statuen und Obelisken, alle wunderschön gearbeitet.
Je weiter sie fuhren, desto klarer wurde ihnen, dass dies nicht nur ein paar belanglose Ruinen waren. Es waren die Überreste einer Stadt. Einer Stadt, die komplett auf den Grund des Meeres gesunken war.
Oskar wollte Livanos gerade danach fragen, als sein Blick von einem Gebäude angezogen wurde, wie er noch keines zuvor gesehen hatte. Es stand im Zentrum der alten Stadt und thronte auf einem kegelförmigen Hügel. Umgeben von einer Doppelreihe von Säulen stand ein weißer Würfel, der von einer goldenen Kuppel überdacht wurde. Gekrönt wurde sie von einer nadelförmigen Spitze, die wie eine verkleinerte Ausgabe des Eiffelturms aussah. Der Würfel besaß keine sichtbaren Ein- oder Ausgänge, keine Fenster, keine Schießscharten, nichts.
Oskar war sprachlos, als er sah, wie groß das Gebäude war. Die Akropolis wirkte dagegen wie ein Spielzeughaus.
»Was ist das?«, flüsterte er. »So etwas Schönes habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Das, meine lieben Gäste, ist die letzte Station unserer Besichtigungstour«, sagte Livanos. »Der Palast des Poseidon.«
»Überwältigend!«, rief Humboldt. »Eine Fundgrube für künftige Archäologen. Ist schon etwas über diese Stadt bekannt? Wie hieß sie?«
Livanos lächelte. »Sagt Ihnen der Name Atlantis etwas?«
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Den Abenteurern verschlug es vor Erstaunen die Sprache.
Die Erste, die ihre Stimme wiederfand, war Charlotte.
»Atlantis ist doch nur ein Mythos.«
»Ein Mythos, sagen Sie?« Livanos gestattete sich ein feines Lächeln. »So wie Troja? Hieß es da nicht auch, es sei nur ein Mythos? Und war es nicht einer Ihrer Landsleute, der es vor wenigen Jahren unter den Hügeln von Hisarlik ausgrub?«
»Sie reden von Heinrich Schliemann und dem Schatz des Priamos«, flüsterte Oskar.
»Ganz recht, mein junger Freund. Schliemann hat Zeit seines Lebens geglaubt, die Beschreibungen in Homers Ilias würden auf Tatsachen beruhen. Dafür wurde er von seinen Kollegen geschmäht und verlacht. So lange, bis er schließlich die Stadt fand. So ähnlich verhält es sich auch mit Atlantis. Nur weil die Angaben dazu äußerst vage und widersprüchlich sind, heißt das noch lange nicht, dass es nicht doch existiert. Unsere Hauptquelle ist Platon, der es 360 v.Chr. als ein Inselreich beschrieb, das über große Teile Afrikas und Europas herrschte und das dann im Laufe eines einzigen Tages und einer einzigen Nacht im Meer versank. Seine Lage wurde mit den Worten ›Jenseits der Säulen des Herakles‹ beschrieben, womit nach Ansicht vieler Forscher nur die Meerenge von Gibraltar gemeint sein könne. Doch was, wenn sie sich geirrt haben?«
Humboldt runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Was, wenn mit den ›Säulen des Herakles‹ nicht Gibraltar gemeint war, sondern eine Felsformation an der Ostküste Kretas, die den gleichen Namen trägt? Stellen Sie sich eine Karte vor und zeichnen Sie eine Linie von Alexandria, dem wirtschaftlichen, geistigen und politischen Zentrum der römisch-hellenistischen Welt, in Richtung Kreta. Wohin gelangen Sie, wenn Sie die Linie weiterziehen? Genau. Nach Santorin, dem Herz der minoischen Kultur.«
Oskar hob verwundert den Kopf. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass er von den Minoern hörte. Erst bei Nikomedes, jetzt bei Livanos.
»Wenn also die Richtung stimmt«, fuhr der Herrscher fort, »dann müssen wir nach der politischen Bedeutung fragen. Und auch hier gibt es Übereinstimmungen. Die Minoer beherrschten das Mittelmeer über viele Jahrhunderte hinweg. Ihr Einfluss war sowohl auf der europäischen als auch der afrikanischen
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