Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
Gefährt.
»Wie Sie vermutlich bemerkt haben, ist das Palastgebäude das größte Bauwerk von ganz Mediterrania«, sagte Livanos. »Hier regele ich meine Amtsgeschäfte, koordiniere Bauarbeiten und gewährleiste einen reibungslosen Ablauf aller anstehenden Aufgaben. Von hier aus erlasse ich aber auch Gesetze und Verordnungen, falls das notwendig sein sollte. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass es in all den Jahren kaum zu kriminellen Übergriffen unter der Bevölkerung gekommen ist. Wir sind ein sehr friedliebendes Volk.«
»Wo ist denn die Bevölkerung?«, fragte Charlotte. »Abgesehen von Herrn Cagliostro haben wir hier unten bisher nur Maschinen gesehen.«
»Oh, das liegt daran, dass sie hauptsächlich draußen auf den Farmen arbeiten. Sie sind Fremden gegenüber recht zurückhaltend«, sagte Livanos. »Momentan liegt unsere Bevölkerungszahl bei dreiundneunzig, doch dank Ihrer Ankunft werden wir auf über hundert anwachsen.«
Oskar lief es kalt den Rücken runter. Dann hatte Livanos also wirklich vor, sie hier unten gefangen zu halten? Offenbar wusste er nicht, mit was für einem Mann er es zu tun hatte. Humboldt würde eine Gefangennahme niemals akzeptieren. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass er hier Däumchen drehte und für den Rest seiner Tage Fischfutter aß.
Oskar blickte zu Charlotte hinüber. Ihr Gesicht wirkte bleich und eingefallen. Es brach ihm das Herz, sie so unglücklich zu sehen.
Cagliostro und seine Garde bildeten ein Spalier, durch das Livanos und die sechs Abenteurer den Raum verließen. Der Herrscher führte sie zum Bahnhof, wo die Rohrpostbahn bereits auf sie wartete. »Das Bahnnetz war eines der ersten Bauwerke, das wir geplant und konstruiert haben«, erläuterte Livanos. »Die Idee war, große Strecken zu überbrücken, ohne extra auf Schiffe umsteigen zu müssen. Das hätte Unmengen Schleusen und Druckventile vorausgesetzt, die wir damals noch nicht hatten. Vielleicht sähe die Stadt heute anders aus, wenn Monsieur Rimbault damals Teil unserer Crew gewesen wäre. Wir haben uns jedenfalls damals entschieden, ein Röhrensystem zu konstruieren, das mittels Druckluft funktioniert. Um dem enormen Wasserdruck zu widerstehen, wurden die einzelnen Segmente aus einer speziellen Verbindung von Stahl und Glas hergestellt. Sie sind also nicht nur enorm sicher, sondern besitzen obendrein den Vorteil, dass man hinaussehen kann.« Livanos wies auf die Ledersitze. »Wenn Sie bitte einsteigen würden.«
Oskar fiel auf, dass Livanos tatsächlich im Plural sprach.
Der Herrscher wollte gerade in die Bahn einsteigen, als Cagliostro ihm seine Hand auf die Schulter legte.
»Euer Eminenz«, sagte er. »Lasst mich die Führung übernehmen. Ihr wisst um Eure angeschlagene Gesundheit.«
Livanos Blick war alles andere als freundlich. »Danke für deine Fürsorge, Cagliostro, aber ich werde es schon schaffen.«
»Majestät, Ihr solltet Euch das wirklich noch einmal überlegen …«
Livanos richtete sich in seinem Rollstuhl auf. »Hat sie das gesagt?«
»Nun … äh …«
»Will sie etwa andeuten, ich wäre nicht in der Lage, meine Gäste selbst zu führen?« Er warf seinem Adjutanten einen vernichtenden Blick zu. »Noch bin ich hier Herr im Hause. Richte ihr das aus. Und jetzt lass mich in Ruhe und erlaube mir wenigstens dieses kleine Vergnügen!« Er gab den mechanischen Wachen die Anweisung, sich auf die hinteren Plätze zu setzen.
Oskar hatte die kleine Auseinandersetzung mit wachsendem Interesse verfolgt. Humboldt hatte recht gehabt. Es gab hier unten tatsächlich noch jemanden, der das Sagen hatte, und anscheinend war dieser Jemand weiblicher Natur.
Er wollte gerade bei seinen Freunden Platz nehmen, als der Herrscher auf ihn deutete. »Nein. Du kommst zu mir.«
»Was … ich?«
»Setz dich, dann können wir auf der Fahrt ein wenig plaudern.«
»Aber ich …«
»Nicht so schüchtern, ich beiße schon nicht.«
Oskar bezähmte seine Furcht, schnappte seine Tasche und ging nach vorne.
»So ist’s recht. Bring deinen kleinen Vogel ruhig mit. Alle abfahrbereit? Dann wollen wir mal.« Livanos zog einen Hebel, drückte eine Reihe von Knöpfen und die Bahn setzte sich in Bewegung. Kaum in der Röhre angelangt, schoss sie auch schon davon. »Humboldt erwähnte, dass du gerne liest«, begann Livanos das Gespräch, als sie auf die weiten Ebenen hinausfuhren. »Was für Bücher liegen dir denn besonders am Herzen?«
»Abenteuergeschichten«, murmelte Oskar. Er fühlte sich unwohl, so dicht
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