Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
mehr. Er war jetzt beinahe zwei Meter groß und dünn wie eine Bohnenstange. Seine Gliedmaßen waren vollkommen durchsichtig, als würden sie aus flüssigem Glas bestehen. Ehe noch jemand ein Wort sagen konnte, griff Oskar mit seinen Armen nach oben in die Belüftungsöffnung und zog sich daran hoch. Humboldt sah mit fassungslosem Staunen, wie erst der Kopf, dann Schultern und Oberkörper in dem Loch verschwanden. Der Anblick war gleichsam grauenvoll wie faszinierend. Der Junge sah aus, als bestünde er aus Kautschuk. Immer größere Teile seines Körpers verschwanden in der Öffnung. Gegen Ende gab es ein ploppendes Geräusch, dann war Oskar verschwunden.
»Ich will verdammt sein …« Humboldt eilte unter das Fenster und schrie hinaus: »Oskar, bleib bei uns! Geh nicht weg, vielleicht können wir dir noch helfen!«
Keine Antwort.
»Du darfst jetzt nicht aufgeben, Oskar! Bitte bleib!«
Stille.
Er blickte noch eine Weile durch das schmale Fenster, dann sackte er in sich zusammen. Trauer und Hilflosigkeit überwältigten ihn. Er verbarg seinen Kopf zwischen den Händen.
In diesem Moment erklang von der Tür ein scharrendes Geräusch. Es kratzte und rumpelte, dann war ein schmaler Lichtstreifen zu sehen.
Max tippte ihm auf die Schulter. »Herr Humboldt.«
Der Forscher hob den Kopf. »Was ist?«
»Sehen Sie sich das an.«
Die Tür war schon mehrere Zentimeter weit geöffnet.
Max und Harry eilten zur Tür und erweiterten den Spalt.
»Helfen Sie uns schieben.«
Humboldt stand auf. Gemeinsam gelang es ihnen, die schwere Tür zu öffnen. Der Himmel draußen war wolkenverhangen. Feine Regentropfen rieselten herab, benetzten Haut und Haare. Vor ihnen stand Oskar. Einmal abgesehen von seiner hellen, beinah transparenten Haut und der Tatsache, dass er weder Hemd noch Schuhe trug, sah er ganz normal aus. Nur die Augen waren anders. Sie leuchteten in einem satten Grün.
Humboldt überlegte, ob er Oskar berühren sollte, entschied sich dann aber dagegen.
»Bist du es, Oskar?«
Der Junge schwieg. Er hielt seinen Kopf in einer leicht geneigten Position, so als wüsste er nicht, mit wem er gerade sprach. Sein Mund war zu einem irritierenden Lächeln geformt. »Es hat begonnen«, sagte er.
Patrick wusste nicht, was erschütternder war. Der Anblick des zerstörten Tempels oder die Tatsache, dass der Meteorit in Hunderte Einzelteile zerborsten war. Beides waren Fundstücke ersten Ranges und von unschätzbarem Wert für die Forschung. Dass sie hier zu Staub zerfallen vor seinen Füßen lagen, war für Patrick der letzte Beweis, dass sein Boss wahnsinnig geworden sein musste. Dieser Mann war nicht mehr zurechnungsfähig. Er würde alles und jeden opfern, wenn es seinen eigenen ehrgeizigen Plänen diente.
Sie würden sterben, ehe sie auch nur ein müdes Pfund in der Tasche hatten. Das Bild der in die Höhe gereckten gläsernen Hände wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen.
»Mach mal ein bisschen voran.« Wilsons Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Da liegen noch zwei Splitter, direkt vor deinen Füßen.« Der Meteoritenjäger warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Widerstrebend öffnete Patrick die metallene Butterbrotdose und zog die Patronenzange aus seiner Tasche. Er war vorsichtig genug, die Bruchstücke nicht mit bloßen Händen zu berühren.
Er beugte sich vor und wollte den ersten Splitter einsammeln, als er verblüfft innehielt. Der Stein bewegte sich.
Patrick ging näher ran und kniff die Augen zusammen. Kein Zweifel: Der Stein wuchs. Durch die vor Feuchtigkeit glänzende Oberfläche liefen Risse, die den Kristall in zwei Hälften spalteten. Als sie auseinanderbrachen, lag zwischen ihnen eine zweite, größere Version des Steins. Der Vorgang wiederholte sich, wieder mit demselben Ergebnis. Es war fast, als sähe man einer Pflanze beim Wachsen zu.
Patrick hob den Kopf. »Sir Wilson?« Seine Stimme klang dünn und zittrig. Dann noch einmal: »Sir Wilson?« Doch der Meteoritenjäger reagierte nicht. Sein Blick war auf den Boden geheftet, seine Augen weit aufgerissen. Irgendetwas schien seine Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Und er war nicht der Einzige. Von überall her erschallten auf einmal Ausrufe des Erstaunens. Sie reichten von Belustigung bis hin zu purem Entsetzen. Patrick gehörte zu Letzteren. Was er sah und, vor allem, was er hörte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Über das Rauschen des Regens hinweg war ein seltsames Klirren zu
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