Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
auf und nahm dann Wilmas Körbchen heraus. Jetzt kamen auch Bert und Maus mit den Lastschlitten. Lena saß bei Maus auf dem Kutschbock und sah aus, als würde sie nur aus Mütze und Handschuhen bestehen. Humboldt war bereits drüben bei der Scheune und wies die Lastschlitten ein. Dann redete er mit den Männern.
Das große Tor wurde geöffnet und das Luftschiff ins Freie gezogen. Das Licht der Fackeln schimmerte auf den bunt bemalten Flanken. Immer wenn Oskar die Pachacútec sah, staunte er über die mächtige Auftriebshülle. Die geschwungene Personengondel mit den großen Steuersegeln, die metallenen Motoren und die schnittigen Propeller waren jedes Mal faszinierend. Das Schiff, ein Geschenk der Regenfresser, war über und über mit indianischen Symbolen wie Schlangen oder Drachen bemalt. Wer sie zum ersten Mal sah, konnte es schon mit der Angst zu tun bekommen, doch die Männer, die Humboldt mit der Wartung und dem Schutz des Schiffes beauftragt hatte, waren den Anblick gewohnt. Wie es hieß, war Ferdinand Graf von Zeppelin gerade dabei, eine eigene Staffel von Luftfahrzeugen zu bauen, doch bis es so weit war, vergingen sicher noch Jahre.
Im Nu war alles verladen und in die Gepäckräume gepackt. Humboldt kletterte an Bord und aktivierte die Brennstoffzellen. Ein Teil des Wasserstoffes, der in Tanks auf dem Schiff lagerte, war bereits in die Auftriebshülle geströmt, während ein anderer Teil die Außenbordmotoren antrieb. Das Schiff rumpelte und bockte wie ein junges Pferd und die Männer hatten alle Mühe, es im Griff zu halten.
Als alles bereit war, kam das Signal. Humboldt schwenkte die Arme und rief: »Alles in Ordnung! Ihr könnt jetzt an Bord kommen!«
Oskar blies warme Luft in seine Hände. Das Rumstehen hatte ihn völlig ausgekühlt. Er freute sich, endlich in das geheizte Innere des Luftschiffes zu gelangen.
Er sagte seinen Freunden Lebewohl, dann kletterte er über eine Strickleiter an Bord und half die Leiter hochzuziehen. Jetzt gab Humboldt das Signal zum Aufbruch. Die Männer ließen die Seile los und mit schnurrenden Motoren stieg die Pachacútec in den Himmel. Oskar, Charlotte und Eliza beeilten sich, die Seile einzuholen und aufzuwickeln, dann war es endlich Zeit, ins wärmende Innere des Schiffes zu gehen. Humboldt startete den automatischen Kreiselkompass, dann folgte er ihnen.
Oskar winkte seinen Freunden ein letztes Mal zu, dann beeilte auch er sich, ins Innere zu gelangen. Ein eisiger Wind blies dem Schiff entgegen, als es eine Drehung um neunzig Grad vollführte und dann Kurs Südsüdwest einschlug. Mit sanft schnurrenden Motoren schwebte es in die sternklare Nacht hinaus.
15
Am nächsten Morgen
in den Tafelbergen von Bandiagara …
Die Sonne war bereits über den Horizont gestiegen, als Yatimè den Rand der Klippe erreichte und zu dem gegenüberliegenden Tafelberg hinüberblickte. Zwischen ihrem und dem anderen Plateau lagen nur etwa fünfzig Meter, doch man musste ein Vogel sein, um hinüberzugelangen. Es sei denn, man betrat den schmalen Felsenbogen, der zur verbotenen Stadt führte. Eine natürliche Brücke in schwindelerregender Höhe, die die beiden Berge miteinander verband.
Das Dogonmädchen wusste, dass sie gegen den Willen ihres Vaters handelte, wenn sie den Bogen überquerte, aber sie hatte ihre Gründe. Ihr Vater – der Schmied des Dorfes – wollte heute die Esse anfachen und er konnte ausgesprochen unangenehm reagieren, wenn kein Feuerholz da war. Die Suche danach war nach der letzten Dürre schwieriger geworden. Bei den Bäumen rund um den Tafelberg war kaum noch etwas zu finden. Zweige durfte man nicht abbrechen, denn die Bäume gehörten einzelnen Dorfbewohnern, die sofort zum Ältesten rannten, wenn sie jemanden beim Holzstehlen beobachteten. Man hatte also die Wahl, entweder viele Kilometer ins Sau – das unbebaute Buschland – zu laufen oder den gegenüberliegenden Tafelberg zu betreten und das Risiko einzugehen, erwischt zu werden. Das Betreten des Plateaus war unter Strafe verboten. Seit in einer Nacht vor vielen Hundert Jahren das rätselhafte Volk der Tellem diesen Stein in die Stadt gebracht hatte, lag ein Fluch darüber. Die Bewohner hatten sich verändert und waren zu Ungeheuern geworden, hieß es. Die Dogon hatten damals blutige Kämpfe ausgefochten und dem Unheil, das auf dem Tafelberg schlummerte, ein Ende bereitet. Seitdem waren sie zu den erklärten Hütern des Geheimnisses geworden. Sie hatten darauf geachtet, dass niemand
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