Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
den Berg betrat, selbst dann nicht, wenn er friedfertig war und Geschenke brachte. Wer den Gesetzen zuwiderhandelte und dennoch die Stadt betrat, konnte aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen werden. Doch das war noch nie geschehen. Niemand war so verrückt, freiwillig den Berg der Tellem zu betreten. Es hieß, dort lebten die Geister der Ahnen, die jeden, der sich zu weit vorwagte, zu Stein verwandelten.
Yatimè hielt das für Unsinn.
Die Leute hatten einfach Angst und suchten nur nach einem Vorwand, der ihre Furcht rechtfertigte. Die Geschichte von dem mysteriösen Stein kam ihnen da gerade recht.
Yatimè war zwölf Jahre alt und die zweite Tochter des Schmieds. Sie stand, was Ansehen und Respekt betraf, auf einer niedrigen Stufe, niedriger sogar noch als ihre ältere Schwester, und das wollte etwas heißen. Ihre Schwester war eine hohle Nuss, die sich nur für ihr Aussehen interessierte. Sie prahlte alle naselang, dass sie eines Tages den Sohn des Metzgers heiraten und ihm eine Menge Kinder schenken würde.
Yatimè fand dieses System ungerecht.
Seit sie denken konnte, fühlte sie, dass sie anders war. Im Dorf genoss sie den Ruf eines Sonderlings. Nicht nur, weil sie nachts zu den Sternen sang oder mit Tieren sprach, nein, sie konnte in ihren Träumen Dinge sehen, die noch nicht geschehen waren. Erst kürzlich hatte sie wieder einen solchen Traum gehabt. Sie hatte Menschen mit heller Haut gesehen, die auf einem riesigen Tier über den Himmel geritten kamen, genau, wie es in der Prophezeiung hieß. Doch ihre Mutter hatte wie immer den Kopf geschüttelt und gesagt, in ihr wohne der Geist der Tellem. Die anderen Kinder hänselten sie deswegen, doch Yatimè war das egal. Sie mied ihre Gesellschaft und trieb sich lieber allein draußen im Buschland herum. Die Stille und die Einsamkeit machten ihr nichts aus. Außerdem – ganz allein war sie ja nicht. Ihr Freund Jabo war stets in ihrer Nähe. Jabo war ein Mischlingsrüde, den Yatimè als Welpen gefunden und aufgezogen hatte. Eine Hyäne oder ein Schakal hatte das Jungtier gepackt und übel zugerichtet. Es hatte Wochen gedauert, ihn wieder aufzupäppeln. Jabo hatte nur ein Auge. Eines seiner Ohren war ausgefleddert und außerdem hinkte er ein wenig. Aber das machte nichts. Er war der beste Beschützer, den man sich nur wünschen konnte. Aufmerksam, hellhörig und mit dem Mut eines Löwen gewappnet. Die anderen Kinder mochten ihn nicht. Er war hässlich, angriffslustig und schnell beleidigt, aber Yatimè war nett zu ihm und deshalb vertraute er ihr. Vielleicht spürte er aber auch, dass sie genau so ein Außenseiter war wie er.
Yatimè folgte der Abbruchkante des Berges in Richtung des schmalen Felsbogens. Sie hätte gern größere Schritte gemacht, doch der Wickelrock behinderte sie. Sie blieb stehen und band den Saum ihres Rocks bis zu den Oberschenkeln hoch. Dann steckte sie zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus.
Jabo kam aus dem Unterholz. Die Zunge heraushängend und mit seinem einen Auge mürrisch in die Gegend spähend, kam er herbeigehumpelt.
»Wo warst du nur so lange?« Yatimè streichelte ihrem Freund über den Kopf. »Hast du wieder Kaninchen gejagt? Du weißt doch, dass die kleinen Biester zu schnell für dich sind. Nimm’s nicht so schwer. Für alle Fälle habe ich ja immer einen Streifen Trockenfleisch mit dabei.« Sie klopfte auf ihren Schulterbeutel. »Du musst ihn dir natürlich verdienen. Ich habe vor, in die verbotene Stadt zu gehen. Kommst du mit?«
Jabo hielt den Kopf schief.
»Ist nicht weit. Dort drüben, bei den grünen Büschen fängt sie an. Dort gibt es Schatten, Holz und etwas zu essen, also komm.«
Jabo kläffte kurz, dann rannte er auf den Felsbogen zu. Yatimè klemmte den Beutel unter den Arm und eilte hinter ihm her.
16
Die Pachacútec machte gute Fahrt. Ein stetiger Wind trieb das Luftschiff mit Tempo über die Alpen, immer weiter Richtung Süden. Rings um sie herum ragten schneebedeckte Gipfel in die Höhe. Rechts der Monte Limidario, links der Monte Tamaro. Beide um die zweitausend Meter hoch. Unter ihnen erstreckte sich das blaue Band des Lago Maggiore. Vor ihnen, in einigen Kilometern Entfernung, sah Oskar die fruchtbare Ebene des Po, des größten Flusses Italiens. Dahinter, nur ein zarter blauer Strich, das Meer.
Obwohl die Sonne schien und der Himmel in tiefem Blau leuchtete, war die Luft schneidend kalt. Oskar stand, in seine dicke Winterjacke gemummelt, am Bug des Luftschiffs und
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