Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
den Weg stellen.
Plötzlich blieb sie stehen. Vor ihr, auf dem sandigen Untergrund, waren Fußspuren zu erkennen.
Yatimè verstand sich gut aufs Fährtenlesen. Sie stellte fest, dass diese Spuren nicht älter als ein halbes Jahr sein konnten. Es hatte seit Monaten kaum geregnet und die Stadt war zwischen den Felswänden vor den heftigen Winden geschützt. Yatimè kauerte sich hin. Diese Abdrücke stammten definitiv nicht von einem Menschen ihres Volkes. Sie wiesen ein markantes Querrillenprofil auf, wie sie es nur von Schuhen der Weißen kannte. Von Abenteurern, Landvermessern und Soldaten. Doch wie war der Eindringling an den Wachposten der Dogon vorbeigekommen? Der einzige Aufstieg zum Hochplateau lag im Osten und wurde streng bewacht. Um unbemerkt in die verbotene Stadt zu gelangen, musste man über den schmalen Felsenbogen gehen, wie sie es heute Vormittag getan hatte. Einen anderen Weg gab es nicht. Oder doch?
Sie musste an ihren Traum denken. Weiße Menschen waren gekommen und auf ihren Spuren folgte der Tod.
Das Rätsel ließ ihr keine Ruhe. Sie stand auf und folgte der Spur. Sie führte einmal um den Tempel herum und von da aus die Treppen hinauf zum Eingang.
Mit klopfendem Herzen nahm sie ihren Hund auf den Arm und trug ihn hinauf. Die Tür stand offen und erlaubte einen Blick in das dämmrige Innere des Tempels.
»Keine Angst, mein Kleiner«, flüsterte sie Jabo ins Ohr. »Ist doch bloß ein verlassenes Haus. Nichts, wovor man sich fürchten muss. Schau, die Spur führt direkt hinein.« Was hatte der Fremde da drin wohl zu suchen gehabt?
Oben angekommen setzte sie Jabo vorsichtig ab. Der Ort war alles andere als geheuer. Sie hatte das Gefühl, von Dutzenden bösartiger Augen angestarrt zu werden. Irgendetwas Böses lauerte in diesem Gebäude, etwas Lebendiges. Sosehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, einen Schritt in den Tempel zu setzen.
Eine Heuschrecke kam angeschwirrt und landete einen knappen Meter vor ihr im Sand. Das Tier spreizte seine Flügel und putzte seine Fühler. Als es sah, dass es hier nichts Fressbares finden würde, machte es sich für den Abflug bereit. Auf einmal geriet der Sand in Bewegung. Es gab ein Rascheln und ein Knistern, dann war das Insekt verschwunden.
Jabo gab ein Winseln von sich und wich ein paar Schritte zurück. Yatimè starrte auf die Stelle, an der eben noch die Heuschrecke gesessen hatte. Nicht mal ein Bein oder ein Fühler schauten noch heraus. Trotzdem: Etwas bewegte sich in den Tiefen des Bodens, das konnte man sehen. Ob das die Heuschrecke war, die versuchte, nach oben zu kommen, oder ob irgendetwas den unglücklichen Hüpfer gepackt hatte und ihn langsam verspeiste, war nicht zu erkennen. Yatimè wollte gerade mit ihrem Stock im Sand herumstochern, als ihr ein merkwürdiger Gestank in die Nase drang. Scharf und abstoßend.
In diesem Moment kam die Heuschrecke wieder an die Oberfläche. Sie war deutlich größer und komplett durchscheinend. Ihre Form erinnerte immer noch an eine Heuschrecke, doch die gläsernen Fühler und Beine und vor allem die schillernden Beißwerkzeuge ließen Yatimè entsetzt aufstöhnen. Das Wesen krabbelte aus dem Sand, blickte sich um und stieß dann ein schrilles Quietschen aus. Instinktiv wich Yatimè einen Schritt zurück. Ihr Fuß erreichte die Kante der Treppenstufe, trat ins Leere und rutschte dann ab. Sie taumelte, strauchelte, dann kippte sie hintenüber. Zum Glück gelang es ihr, sich abzurollen, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie sich ein paar äußert schmerzhafte Prellungen holte. Haare, Gesicht und Kleidung waren bedeckt mit Sand. Sie sprang auf und streifte das eklige Zeug ab. Dann griff sie nach Jabo, klemmte ihn unter ihre Armbeuge und rannte, so schnell ihre Füße sie trugen, zurück in Richtung der Brücke.
18
Drei Tage später …
Max Peppers Schuhe klapperten über die Bodenbleche des Frachters. Der schmale Korridor, der zu Boswells Kabine führte, war mit schmutzig grauer Farbe getüncht und schwankte im Seegang hin und her. Max musste sich abstützen, weil das Schiff mit erheblichen Wellen zu kämpfen hatte.
Die Helena war ein kleiner Dampfer, der zwischen London und Dakar hin und her fuhr. Es war der dritte Tag ihrer Abreise und sie befanden sich gerade vor der Küste Portugals. Wenn man durch die Bullaugen sah, konnte man in der Ferne die steilen Berge von Lissabon erkennen. Max war jedoch nicht nach Sightseeing zumute. Was er entdeckt hatte, duldete keinen
Weitere Kostenlose Bücher