Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
rieb sich die Hände. »Dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Sie werden sicher nach dem Verlust Ihres Luftschiffs forschen wollen. Wenn es irgendetwas gibt, das ich dabei für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen. Ansonsten sehen wir uns heute Abend nach dem Gottesdienst.«
30
Die Dampflokomotive wirkte wie ein Fremdkörper inmitten der eintönigen Landschaft. Von oben betrachtet hätte sie wie ein Staubkorn gewirkt, verglichen mit den unendlichen Weiten der afrikanischen Savanne. Zweitausend Kilometer Sand, Geröll und Strauchwerk lagen zwischen Dakar und Timbuktu. Zweitausend Kilometer, während derer man nichts tun konnte als lesen, schlafen und schwitzen. Max Pepper hätte im Leben nicht geglaubt, dass ein Land so wüst und leer sein könnte. Seit Stunden hatte er keine Menschenseele gesehen. Keine Bauern, keine Hirten, keine Händler. Auch Tiere waren keine zu entdecken, sah man mal von ein paar Geiern ab, die müde und verlassen in den Kronen abgestorbener Bäume hockten und darauf warteten, dass irgendein unvorsichtiger Nager seinen Kopf aus dem Erdloch steckte. Über der Steppe lag eine brütende, alles und jeden verzehrende Hitze. Die Luft flimmerte und selbst der Himmel hatte seine Färbung verloren. Der Wind, der durch die geöffneten Fenster des Zugabteils hereindrang, brachte keine Kühlung, nur Lärm, Gestank und Ruß.
Von irgendwoher kam eine irische Melodie ins Fenster geweht. Harry Boswell, der Max gegenübersaß und in eine uralte Ausgabe des Herold Tribune vertieft war, spitzte die Ohren und lauschte. Max hob den Kopf von seinen Notizen.
»Ist das nicht die Stimme von Patrick O’Neill?«
»Und die von Wilson«, ergänzte der Fotograf, während er die Zeitung faltete und neben sich legte. »Komm, lass uns mal nachsehen. Ich wollte mir ohnehin gerade die Beine vertreten. Von der ewigen Herumsitzerei bekomme ich Schwielen am Hintern.«
Max nahm seine Brille ab, legte Schreibblock und Füllfederhalter beiseite und stand auf. Sein Rücken gab ein bedenkliches Knacken von sich. Er hatte versucht zu schreiben, aber bei dieser Eintönigkeit fiel ihm einfach nichts ein. Ein bisschen Abwechslung konnte nichts schaden.
Als sie die Tür zum Gang öffneten, stach ihnen der Geruch von Schweiß und billigem Rasierwasser in die Nase. Der Zug war gerammelt voll, wobei es hier, in den Abteilen der ersten Klasse, noch erträglich war. Drüben in der zweiten und dritten quoll es förmlich über vor Händlern und Wanderarbeitern. Auch etliche Halsabschneider waren darunter, die auf der Flucht vor der Polizei in einer anderen Stadt ihr Glück versuchen wollten. Max hatte noch nie so viele zwielichtige Gestalten auf einem Haufen gesehen. Verglichen dazu war das, was man zu Hause als ›Wilder Westen‹ bezeichnete, ein Kindergarten.
Harry schwankte zur Tür von Jabez Wilson. Zu ihrer Überraschung war das Abteil leer. Auch die Nachbarabteile waren unbesetzt. Sie hielten einen Schaffner an und fragten ihn, wo denn die Engländer geblieben seien, doch statt einer Antwort machte dieser nur ein betrübtes Gesicht und deutete nach oben.
Harrys Brauen rutschten in die Höhe. »Was denn, auf dem Dach?«
Max konnte es kaum glauben. »Was machen die denn da oben? Ist das nicht gefährlich?« Das Gesicht des Schaffners sah betrübt aus. Auf Boswells Gesicht hingegen zeichnete sich ein Lächeln ab. »Dieser O’Neill ist doch wirklich immer für eine Überraschung gut. Schade, dass er uns nicht Bescheid gesagt hat. Komm, Pepper, das lassen wir uns nicht entgehen.«
Noch ehe Max Widerspruch einlegen konnte, war Boswell schon am Ende des Waggons und riss die Tür auf. Max folgte ihm.
Der heiße Wind zerzauste seine Haare. Die Savanne zog mit beängstigender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Komisch, eben im sicheren Abteil hatte ihre Fahrt viel langsamer gewirkt.
Boswell war auf den Treppenabsatz hinausgetreten und blickte nach oben. »Hier ist eine Leiter«, sagte er. »Schauen wir mal, ob ich recht habe.« Er packte die Sprossen und zog sich daran hoch. Sie war gerade breit genug, dass man zwei Füße nebeneinanderstellen konnte.
»Ich hasse Leitern«, sagte Max, doch seine Anspielung auf ihre Abenteuer in Peru blieb ungehört. Boswell war schon verschwunden. Plötzlich tauchte sein Kopf wieder auf.
»Jetzt komm schon!«, rief er. »Ich kann O’Neill bereits sehen. Wilson ist auch dort. Die scheinen eine Menge Spaß zu haben.«
Kaum gesagt, war er auch schon wieder verschwunden.
»Na
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