Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
»Um ein Haar hätten sie uns erwischt.«
Oskar zog an ihrem Ärmel und deutete hinter sie. Dort, wo der Felsvorsprung endete und eine weitere Wand in die Höhe ragte, stand ein Mädchen, etwa elf oder zwölf Jahre alt. Ihre dunkle Haut schimmerte geheimnisvoll und in ihren Zöpfen klingelten kleine Metallplättchen. Sie trug einen bunt bestickten Wickelrock und Ledersandalen und hielt einen Stab in der Hand. Über ihrer Schulter hing eine geflochtene Tragetasche, in der ein äußerst grimmig aussehender kleiner Hund hockte. Links von ihr führte eine zweite Leiter in die Höhe, die irgendwo zwischen den Felsen über ihren Köpfen verschwand.
»Das Mädchen aus der Stadt«, flüsterte Oskar. »Genau wie ich sie euch beschrieben habe. Sagte ich nicht, ich habe mich nicht geirrt?«
37
Das Mädchen sagte kein Wort. Furchtsam blickte es zu den vier Fremden herüber. Der Forscher ging in die Hocke und streckte seine Hand aus. »Wie heißt du, Kleine?«
Sie schien kurz zu überlegen, dann sagte sie: »Yatimè Bungera.«
»Yatimè? Das ist ein schöner Name. Mein Name ist Humboldt. Carl Friedrich von Humboldt.«
»’Umbod?«
»Ganz recht. Das sind meine Begleiter Eliza, Charlotte und Oskar. Oh, und nicht zu vergessen, Wilma.« Er öffnete Charlottes Rucksack. Ein langer Schnabel tauchte daraus hervor, dann der strubbelige Kopf mit den zwei Knopfaugen. Yatimès Brauen hüpften in die Höhe. Vorsichtig trat sie näher, dann berührte sie den Kiwi sanft mit der Hand. Wilma blickte das Mädchen ernsthaft an, dann ertönte ihre gurrende Stimme aus dem Linguaphon: »Yatimè.«
Der Mund des Mädchens blieb vor Erstaunen offen stehen. Sie hielt die Hand vor den Mund und stieß ein glucksendes Lachen aus. »Sigi so kanaga. Sigi so kanaga.« Ihre Worte klangen seltsam, doch sie hatten einen schönen Klang.
»Ama, dudugonu.«
Humboldt deutete auf das Tier. »Ist das dein Hund?«
Sie schaute auf ihren Begleiter, dann nickte sie.
»Jabo.«
»Jabo?« Humboldt zwinkerte Oskar zu. »Siehst du? Es geht auch ohne Linguaphon. Jabo heißt du also, soso. Na, du bist aber ein ganz Feiner.« Er wollte dem Hund über den Kopf streicheln, doch dieser entblößte seine scharfen Zähne und ließ ein bösartiges Knurren ertönen. Humboldt zuckte zurück.
»Er scheint es nicht zu mögen, angefasst zu werden.«
»Das habe ich auch verstanden.«
Oskar grinste. »Versuchen Sie es doch mal mit Latein.«
Humboldt warf Oskar einen scharfen Blick zu, dann wandte er sich wieder an das Mädchen. Er legte die Hand auf die Brust und deutete eine Verbeugung an. »Yatimè, ich bin dir zu tiefem Dank verpflichtet. Du hast uns vor einer großen Gefahr gerettet. Magst du uns jetzt zu deinen Eltern bringen? Ich würde gern mit einem Erwachsenen sprechen.«
Das Mädchen blickte ihn verständnislos an. Erst als Humboldt nach oben deutete, huschte ein Ausdruck von Verstehen über ihr Gesicht. Sie nahm ihren Stab, ergriff die Sprossen der zweiten Leiter und kletterte daran empor. Einer nach dem anderen folgten sie ihr. Oskar bildete das Schlusslicht. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen letzten Blick auf die Verfolger zu werfen.
Die Missionare standen da, wie sie sie verlassen hatten. Noch immer waren ihre Gesichter völlig ausdruckslos. Oskar konnte es sich nicht verkneifen, ihnen einen spöttischen letzten Gruß zuzuwerfen. Er winkte und verteilte eine Kusshand. Plötzlich war beim Prior eine Regung zu sehen. Der Geistliche deutete erst auf Oskar, dann auf seine Hand. Ein kaltes Lächeln war auf seinem Gesicht erschienen. Ein Schauer lief Oskar über den Rücken. Er wandte sich ab und beeilte sich, hinter seinen Freunden herzuklettern.
Der Weg war steil. Er führte über Strickleitern und Felsvorsprünge immer weiter hinauf. Schon bald hatten die vier Abenteurer die ersten Gebäude erreicht. Einfache kleine Hütten, die wie Schwalbennester in der Felswand klebten. Genau wie in der verbotenen Stadt bestanden auch sie aus Lehm und Holz, wirkten aber wesentlich einladender. Webrahmen mit bunten Teppichen, Töpferwaren und geschnitzte Statuen verzierten die Eingänge und zeugten von der hohen Kunstfertigkeit der Bewohner. Hin und wieder erhaschte Oskar einen kurzen Blick auf die Gesichter hinter den Fenstern, die aber sofort verschwanden, sobald man sich zu ihnen umdrehte. Verhaltenes Getuschel begleitete sie.
Eine schier endlose Reihe von Stufen und Leitern später erreichten sie die Oberkante des Tafelbergs. Oskars Kleidung
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