Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
Sorge um Diebstahl und Spionage hatte er die Hütte recht stabil konstruieren lassen. Nie hätte er damit gerechnet, dass er selbst einmal gezwungen sein würde, einzubrechen. Nach zwei gescheiterten Versuchen nahm er Anlauf und machte einen gedrehten Fersentritt. Die Hütte wackelte in ihren Grundfesten, doch die Tür hielt. Er war völlig durchnässt und seine Schulter schmerzte. Wütend stand er vor der Tür und dachte nach. Wie kam er da rein? Vielleicht über das Giebelfenster? Der benachbarte Baum bot im oberen Bereich einige Ãste, über die man die Ãffnung erreichen konnte. Das Problem war nur, hochzukommen. Aber wenn er herausfinden wollte, was in der Hütte geschehen war, blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zu klettern. Er umschlang den Stamm mit Armen und Beinen und zog sich ein Stück hoch. Eine kräftezehrende Technik, doch nicht unmöglich. Er hatte so etwas schon bei den Baummenschen von Papua Neuguinea gesehen. Bei ihnen sah es ganz einfach aus. Aber sie mussten ja auch nicht in strömendem Regen klettern.
Nach zwei Metern gelang es ihm endlich, einen abgebrochenen Ast zu ergreifen und seine Position zu stabilisieren. Von jetzt an würde es leichter gehen. Der nächste Ast war schon in Griffweite. Er wollte sich gerade hochziehen, als ein erneuter Blitz den Himmel erleuchtete.
Unmittelbar vor ihm, am Ende der Bruchstelle, hing ein Stück Stoff. Ein dicker, eng verwobener und grau gemusterter Wollstoff, wie er für Jacken und Hosen verwendet wurde. Humboldt erstarrte. Er riss den Fetzen ab und hielt ihn dicht vors Gesicht. Er wusste, dass er diesen Stoff schon einmal gesehen hatte. Behringers Jacke!
Die Erkenntnis brachte ihn so aus der Fassung, dass er den Halt verlor und die gesamte Strecke des Stammes nach unten rutschte. Hart schlug er auf dem Boden auf. Nein, flehte er. Bitte nicht das. Nicht auch noch Oskar.
Er war kurz davor, sich von der Verzweiflung übermannen zu lassen, als ein erneutes Leuchten und Flackern aus der Hütte drang. Finger aus Licht zerschnitten die Dunkelheit. Das typische Sausen und Schwirren war zu hören.
Das Zeitschiff â Oskar kehrte zurück!
Oder war es Behringer?
Humpelnd und unter Schmerzen eilte Humboldt zur Tür. Seine Kleidung war von der Baumrinde grün verfärbt, seine Hände und FüÃe starrten vor Matsch. Waffen hatte er keine dabei, also suchte er sich einen handfesten Knüppel und nahm Kampfposition ein. Wenn Behringer die Tür öffnete, würde er sein blaues Wunder erleben.
Im Inneren kam die Maschine zur Ruhe. Das Schwirren nahm ab und erstarb irgendwann ganz. Humboldt konnte hören, wie die Trittleiter heruntergeklappt wurde. Irgendjemand machte sich an der Tür zu schaffen. Der Riegel wurde zurückgeschoben und die Tür schwang auf. Humboldt spannte sämtliche Muskeln an.
Im Schein der Laterne erschien ein dunkler Schatten. Das Haar zerzaust, die Kleider zerfetzt. Ein kurzer Moment atemloser Spannung, dann hörte er eine Stimme.
»Vater? Bist du das?«
»Oskar!«
Humboldt stürzte vor und schloss seinen Sohn in die Arme.
»Du lebst. Mein Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich hörte Herons Alarm und sah die Lichter. Und dann fand ich das hier.« Er hielt Oskar den Stofffetzen hin. »Behringer?«
Der Junge nickte.
»Wo ist er? Ist er hier? Ich werde ihn zu Brei zermalmen.«
»Entspann dich«, sagte Oskar und Humboldt sah ein schwaches Lächeln um seine Mundwinkel huschen. »Er ist fort.«
29
Zur selben Zeit, an einem anderen Ort â¦
D ie Glocke des Berliner Doms schlug zwölf. Es war Mitternacht. Geisterstunde. Ãber der Stadt lag ein brodelnder Hexenkessel aus Wind, Regen und herabzuckenden Blitzen.
Die Mitglieder der ehrwürdigen Loge Flamme und Stein hatten sich in ihrem Tempel versammelt und hielten die Häupter gesenkt. Auf die Kuppel über ihren Köpfen prasselte der Regen. Der Saal war vom flackernden Licht Dutzender Kerzen beleuchtet.
Nathaniel Strecker konnte seine Unruhe nur mit Mühe verbergen. Irgendetwas war vorgefallen. Warum sonst hätte sie der GroÃmeister zu dieser Stunde zusammengerufen? Müde und unrasiert war er in seinen Anzug geschlüpft, hatte seine Maske übergestreift und war in den Tempel geeilt. Alle anderen Mitglieder hatten sich bereits versammelt.
Der Hocherleuchtete Meister begrüÃte Strecker mit respektvollem Nicken und gab ihm zu
Weitere Kostenlose Bücher