Chronos
Imbissrestaurant, wo die Serviererin, eine zierliche Farbige namens Mirabelle, sie kannte. »Ihr seht müde aus«, stellte Mirabelle fest. »Und zwar ihr beide.«
»Kaffee«, sagte Tom. »Und zwei Brötchen.«
»Ihr braucht keine Brötchen. Ihr braucht etwas, das euch aufbaut. Ihr braucht Eier.«
»Wenn ich jetzt nur ein Ei sehe«, sagte Joyce, »dann kommt's mir hoch.«
»Dann nur Brötchen?«
»Das reicht schon«, sagte Tom. »Vielen Dank.«
Joyce sah ihn nicht an. »Ich möchte heute mal etwas allein sein.«
»Das verstehe ich.«
»Du bist sehr rücksichtsvoll«, sagte Joyce. »Du bist ein sehr rücksichtsvoller Mann, Tom. Ist das dort, wo du herkommst, üblich?«
»Wahrscheinlich nicht üblich genug.«
»Die Hälfte der Männer hier reiten die Dylan-Thomas-Masche – sehr scharf und sehr betrunken. Sie deklamieren die schlimmsten Gedichte, und dann sind sie beleidigt, wenn man keine weichen Knie bekommt und sich nicht auf der Stelle auszieht.«
»Und die andere Hälfte?«
»Die ist liebenswert, aber schwul. Du bist eine nette Ausnahme.«
»Vielen Dank.«
»Trotzdem stört mich etwas.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Tom, ich weiß, weshalb du mich belogen hast. Das ist durchaus begreiflich. Und es war auch keine richtige Lüge – du hast einfach ein paar Dinge für dich behalten. Weil du nicht wusstest, ob ich sie verstehen würde. Nun, das ist in Ordnung.«
»Jetzt bist du sehr rücksichtsvoll«, gab er ihr Kompliment zurück.
»Nein, es ist wahr. Aber was ich nicht verstehe: weshalb du hier bist. Ich meine, wenn ich ein Loch in der Erde fände mit dem Jahr 1932 am anderen Ende, dann würde ich ganz gewiss nachschauen ... aber weshalb würde ich dort leben wollen? Um mir ein paar Filme mit Myrna Loy anzusehen oder ein Schwätzchen mit F. Scott Fitzgerald zu halten? Vielleicht um Herbert Hoover einmal in Fleisch und Blut sehen zu können? Sicher, es wäre absolut faszinierend, das gebe ich zu. Aber ich habe doch ein Leben.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, es wäre etwas anderes, wenn der Tunnel in die andere Richtung verlaufen würde. Es würde mich eher reizen, ein paar Jahrzehnte in die Zukunft zu springen. Aber einen riesigen Schritt zurück zu tun – das ergibt für mich nicht allzu viel Sinn.«
Sie zündete sich eine Zigarette an. Tom verfolgte, wie der Rauch vor ihren Augen hochstieg. Sie hatte eine wichtige Frage gestellt und wartete nun auf seine Antwort.
Er empfand plötzlich eine schreckliche Angst, dass ihm keine einfiel, dass er nichts vorbringen könnte, um sich zu rechtfertigen.
Er sagte: »Aber wenn du kein Leben hättest ... wenn dein Leben mies und völlig verkorkst wäre ...«
»War es denn so?«
»Ja, Joyce, genau das war es.«
»Neunzehnhundertzweiundsechzig als Alternative zum Selbstmord? Das ist eine recht seltsame Vorstellung, Tom.«
»Es ist auch ein seltsames Universum. So weit das Plädoyer der Verteidigung.«
Mirabelle erschien mit den Brötchen und dem Kaffee. Joyce schob ihren Teller beiseite, als sei er etwas völlig Unwichtiges oder nur eine Ablenkung. Sie sagte: »Okay, aber hör dir an, was mich stört.«
Tom nickte.
»Damals in Minneapolis ging ich mit einem Typen namens Ray. Ray redete die ganze Zeit vom Zweiten Weltkrieg. Wir gingen ins Kino, und anschließend saßen wir in irgendeinem billigen Restaurant, während er mir von Guadalcanal oder von der Schlacht um Midway erzählte. Und zwar alles, jedes kleine Detail – ich kann dir von Midway mehr erzählen, als du jemals wissen willst. Nach einer Weile wurde es richtig seltsam. Eines Tages fragte ich ihn, wie alt er gewesen war, als man die Bombe auf Hiroshima warf. ›Ich war zwölf, fast dreizehn‹, antwortete Ray. Ich fragte ihn weiter, woher er all die Dinge über den Krieg wisse, und er sagte, er habe alles aus Büchern und aus Zeitungsartikeln. Er war niemals in der Armee. Er war untauglich wegen seiner Allergien. Aber das sei ganz okay, sagte er, weil heutzutage ja sowieso nichts passiere, nichts wie damals im richtigen Krieg, nicht einmal Korea sei so gewesen. Er redete davon, wie toll es gewesen sein musste, dass junge Männer ihr Leben für ein Anliegen aufs Spiel setzten, das ihnen wirklich wichtig war. Ich fragte ihn, was er denn getan hätte, wenn er an der Invasion in Italien hätte teilnehmen müssen. Er strahlte mich an und sagte: ›Mann, Joyce, ich hätte alle Nazis umgebracht und mit allen Frauen geschlafen!‹«
Sie stieß eine dichte Rauchwolke aus. »Mein Onkel
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