Chronos
war in Italien. Er hat nie darüber geredet. Immer wenn ich ihn nach dem Krieg fragte, bekam er einen abweisenden Gesichtsausdruck. Er starrte einen an, bis man den Mund hielt. Daher wusste ich, dass das alles im Grunde großer Unfug war. Es machte mich rasend. Wenn Ray unbedingt wie ein Held leben wollte, weshalb tat er es nicht einfach? Es war nicht einmal das, was man Nostalgie nennt. Er wollte irgendeine magische Veränderung, er wollte in einer Welt leben, in der alles überlebensgroß war. Ich sagte: ›Weshalb gehst du denn nicht nach Italien? Ich gebe zu, dort herrscht gerade kein Krieg. Aber du könntest am Strand leben, dich mit den Fischern volllaufen lassen und dich in irgendein hübsches Bauernmädchen verlieben.‹ Er schüttelte den Kopf. Das sei nicht dasselbe. Die Leute seien anders als früher.«
»Ist die Geschichte wahr?«, wollte Tom wissen.
»Im Wesentlichen, ja.«
»Und die Moral?«
»Ich dachte gestern an Ray. Ich dachte, was ist, wenn er nun einen Tunnel findet? Und wenn dieser Tunnel ins Jahr 1940 zurückführt?«
»Er würde in den Krieg ziehen«, sagte Tom. »Es wäre nicht das, was er erwartet hat, und er hätte Angst und wäre unglücklich.«
»Schon möglich. Aber vielleicht würde es ihm auch gefallen, und das fände ich viel beängstigender, oder nicht? Er würde mit einem Dauerständer herumlaufen, denn es wäre seine Geschichte, und er wüsste, wie sie verläuft. Er würde mit all den italienischen Mädchen schlafen, aber es wäre makaber, schrecklich, denn in Gedanken würde er mit der Geschichte schlafen. Er würde es mit Geistern treiben. Und das finde ich ziemlich entsetzlich.«
Tom stellte fest, dass sein Mund plötzlich trocken war. »Du denkst, dass ich das tue?«
Joyce senkte den Blick. »Ich muss zugeben, dass mir diese Möglichkeit in den Sinn gekommen ist.«
Er sagte, er werde sie nach ihrem Auftritt bei Mario's abholen.
Allein empfand Tom die Stadt um sich herum wie einen Kopfschmerz. Er könnte zu Lindner's gehen, doch er bezweifelte, dass er sich auf ein Radiochassis konzentrieren konnte, ohne einzuschlafen. Stattdessen fuhr er mit einem Autobus in die Innenstadt und wanderte eine Zeit lang auf der Fifth Avenue herum. Aus einem verrückten Impuls heraus folgte er einer Touristengruppe zur Aussichtsplattform im hundertzweiten Stockwerk des Empire State Building, wo er in einer durch Schlafmangel bedingten Halbtrance am Fenster stand und versuchte, sich die Namen der Gebäude ins Gedächtnis zu rufen, die er erkannte – das Chrysler Building, Welfare Island – und diejenigen unterzubringen, die noch nicht existierten, zum Beispiel das World Trade Center, das noch ein Erdwall am Hudson River war. Das Gebäude, in dem er sich befand, war dreißig Jahre alt, etwa halb so alt wie im Jahr 1989 und um so vieles seinem Art-déco-Glanz näher, erkennbar am feineren Schimmer auf seinem belgischen Marmor und seinen Kalksteinfassaden. Die Touristen waren Ehepaare mit Kindern, mittleren Alters oder jung. Die Männer trugen braune Anzüge und adrette weiße Hemden, die am Hals offen waren, schossen Fotos mit Kodak-Brownies und verteilten Zehncentmünzen an ihre Kinder, die sich um die unförmigen Ferngläser drängten und so taten, als seien es Geschütze, mit denen sie Manhattan im Tiefflug angriffen. Diese Leute streiften Tom mit gelegentlichen Seitenblicken, diesen unrasierten Mann in weitem Sweatshirt und Jeans. Wahrscheinlich ein Beatnik oder irgendein anderer Vertreter des New Yorker Menschenzoos. Tom betrachtete die Stadt durch drahtverstärkte Fenster.
Die Stadt war grau, verraucht, grenzenlos, alt, fremd. Die Stadt war dreißig Jahre zu jung. Die Stadt war ein Fossil in Bernstein, wiederauferstanden, und ihr Pflaster und ihre Vordächer und Oldsmobiles waren mit rätselhaftem Leben erfüllt. Es war eine Stadt der Geister.
Geister wie Joyce.
Er schirmte die Augen gegen die grelle Nachmittagssonne ab. Irgendwo in diesem Gewirr aus Stein und schwarzen Schatten hatte er sich verliebt. Das war eine klare Erkenntnis und nahm dem, was Joyce gesagt hatte, ein wenig die Schärfe. Er schlief nicht mit Gespenstern. Aber er hatte sich vielleicht in eines verliebt.
Und das war vielleicht ein Fehler. Er versuchte sich daran zu erinnern, weshalb er hierhergekommen war und was er erwartet hatte. Einen Rummelplatz: Vielleicht hatte sie recht. Die Sechzigerjahre – dieses legendäre Jahrzehnt – war zu Ende, als er gerade elf gewesen war. Er war in dem Glauben aufgewachsen,
Weitere Kostenlose Bücher