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Chronos

Titel: Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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etwas Wichtiges versäumt zu haben, obgleich er sich nie ganz sicher war, was – es kam darauf an, mit wem man sich darüber unterhielt. Eine wunderbare oder eine schreckliche Zeit. Als der Vietnamkrieg für oder gegen die Freiheit geführt wurde. Als Drogen etwas Gutes oder etwas Schlechtes waren. Als Sex niemals tödlich war. Ein Jahrzehnt, in dem die »Jugend« wichtig war. Als Tom heranwuchs, hatte das Wort viel von seinem Glanz verloren.
    Vielleicht hatte er erwartet, all diese Wunder gebündelt anzutreffen, serviert mit einer Beilage aus Unverwundbarkeit und privatem Wissen. Ein unendliches Geisterdrama, in dem er zugleich Publikum und Darsteller war.
    Aber Joyce hatte das unmöglich gemacht.
    Er war hierhergekommen mit dem Wunsch nach Liebe – nach irgendeinem erlösenden Segen –, aber Liebe war auf dem Rummelplatz unmöglich. Liebe war eine andere Kategorie. Liebe beinhaltete Verlust und Zeit und Verletzbarkeit. Liebe machte all die Kulissen und Bühnenbilder real: realer Krieg, realer Tod, reale Hoffnungen, reale Wünsche.
    Weil er sie liebte, hatte er begonnen, die Welt genauso zu sehen wie sie. Nicht als buntes Ansichtskartenfoto, sondern solide, greifbar, befrachtet mit anderen Bedeutungen.
    Er ließ seine Blicke zum Horizont wandern, wo der heiße Dunst der Stadt hochstieg in einen trostlosen blauen Himmel.
    Er aß in einer Caféteria zu Mittag, ging später dann zu Mario's, einem Kellercafé unter einem Buchladen, bevor Joyce auf die Bühne kam. Die »Bühne« war eine Plattform aus Holzlatten, die mit Sperrholzplatten abgedeckt waren. Dort standen ein Korbstuhl und ein rostfleckiger Mikrofonständer. Letzterer war nicht unbedingt nötig, wenn man den doch recht kleinen Raum betrachtete. Tom setzte sich an einen Tisch in der Nähe der Tür.
    Joyce erschien mit ihrer zwölfsaitigen Hohner und einem nervösen Lächeln. In einem Anflug von Eitelkeit hatte sie sich entschlossen, auf der Bühne auf ihre Brille zu verzichten, und Tom war etwas eifersüchtig. Ohne Brille sah er sie nur, wenn sie zusammen im Bett lagen. Ohne Brille und im Licht der Bühnenbeleuchtung war ihr Gesicht unscheinbar, oval und ein wenig eulenhaft. Sie schaute blinzelnd ins Publikum und zog das Mikrofon näher an den Stuhl heran.
    Sie begann zaghaft, ließ sich vom Klang der Gitarre tragen. Sie verließ sich mehr auf ihre Finger als auf ihre Stimme. Tom saß inmitten des allmählich ruhiger werdenden Publikums, während sie ein paar Akkordfolgen spielte und einmal innehielt, um eine Saite nachzustimmen. Er schloss die Augen und lauschte dem vollen Klang der Hohner-Gitarre.
    »Dies ist ein alter Song«, sagte Joyce.
    Sie sang »Fannerio«, und Tom spürte die scharfe Dissonanz der verschiedenen Zeiträume. Dort saß diese langhaarige Frau in einem Café im Village und spielte Folkballaden. Es war ein Bild, das er mit verblassten Technicolorfilmen, zerfledderten Schallplattencovern auf Trödelmärkten, modrigen alten Life- Nummern in Verbindung brachte. Es war ein Klischee, und es war schmerzlich naiv.
    Aber dies war Joyce, und sie liebte diese Texte und diese Melodien.
    Sie sang »The Bells of Rhymney« und »Lonesome Traveler« und »Nine Hundred Miles«. Ihre Stimme klang direkt, kontrolliert und manchmal untröstlich traurig.
    Vielleicht hatte Larry recht, dachte Tom. Wir lieben sie wegen ihrer Güte, und dann treiben wir sie ihr aus.
    Was hatte er ihr gegeben?
    Eine Zukunft, die sie nicht wollte. Eine Nacht des nackten Grauens in einem Erdloch unter den Mauern von Manhattan. Eine Bürde unbeantwortbarer Fragen.
    Er war in ihr Leben getreten wie ein Schatten, wie ein unheiliger Geist, der ihr mit seinem knochigen Finger ihr Grab zuwies.
    Er wünschte sich ihren Optimismus und ihre Innigkeit und ihre bedingungslose Anteilnahme, weil er selbst nichts von alledem hatte ... weil er all diese Dinge in seiner eigenen unzulänglichen Vergangenheit abgelegt hatte.
    Sie sang »Maid of Constant Sorrow« unter einem blauen Scheinwerfer, allein auf einer winzigen Bühne.
    Tom dachte an Barbara.
    Der Applaus war großzügig. Ein Hut wurde herumgereicht, sie winkte und trat zurück in den Schatten. Tom ging nach vorn und hinter die Bühne, wo sie gerade ihre Gitarre in den Koffer legte. Ihr Gesicht war ernst.
    Sie schaute hoch. »Der Geschäftsführer hat gesagt, Lawrence habe angerufen.«
    »Hier?«
    »Er sagte, er habe den ganzen Tag versucht, uns zu erreichen. Er will, dass wir zu ihm in seine Wohnung kommen; es muss wohl sehr dringend

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