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Chronos

Titel: Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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namens Tosello verheiratet war und zwei Kinder hatte. Joyce, die sich wegen ihrer starken Brillengläser und wegen des Muttermals auf der rechten Schulter schämte. Joyce, die eine wundervolle Singstimme hatte, die einem seltenen Vogel glich, der nur zu ganz bestimmten und speziellen Gelegenheiten frei umherfliegen durfte. Diese durchschnittliche, alltägliche Joyce war der sinnbildlichen Joyce überlegen, und es war diese Joyce, die er zu lieben begonnen hatte.
    Aber sie beachtete ihn nicht. Sie blätterte einen Stapel Papiere neben dem Bücherregal durch, vorwiegend Telefonrechnungen. Tom erkundigte sich, wonach sie suchte.
    »Susans Brief. Der, von dem ich Lawrence erzählt habe. Sie schrieb, ich könne sie anrufen. ›Melde dich, wann du willst‹, schrieb sie. Sie will, dass ich dorthin komme. Es gibt so viel Arbeit! Mein Gott, Tom, wie spät ist es? Mitternacht? Hey, Tom, ist in Georgia jetzt auch Mitternacht?«
    Ihre Frage beunruhigte ihn. »Was hast du vor? Willst du sie heute noch anrufen?«
    »Genau.«
    »Weshalb?«
    »Um Vorbereitungen zu treffen.«
    »Welche Vorbereitungen?«
    Sie stand auf. »Was ich gesagt habe, war kein Scherz. Ich habe es ernst gemeint. Wozu bin ich hier schon nütze? Ich sollte viel lieber unten bei Susan sein und echte Arbeit leisten.«
    Er war erstaunt. Das hatte er nicht erwartet. »Du bist ja betrunken«, sagte er.
    »Ja, ich bin ein wenig beschwipst. Aber nicht so sehr, um nicht an die Zukunft zu denken.«
    Vielleicht war Tom auch ein wenig betrunken. Die Zukunft! Das war zugleich spaßig und beängstigend. »Du willst die Zukunft? Ich kann dir die Zukunft geben.«
    Sie sah ihn stirnrunzelnd an und legte die Papiere beiseite. »Wie bitte?«
    »Sie ist gefährlich, Joyce. Mein Gott, Menschen kommen ums Leben.« Er dachte an die Bürgerrechtsbewegung von 1962. Woran er sich erinnerte, war ein Durcheinander von Schlagzeilen, die er aus Büchern und Fernsehdokumentationen kannte. Bomben in Kirchen, Demonstranten, die Autobusse attackierten, Angehörige des Klan mit Schlagstöcken und abgesägten Schrotflinten. Er stellte sich Joyce mittendrin vor. Der Gedanke war unerträglich. »Du darfst nicht weggehen.«
    Sie hielt den Brief hoch, der in Augusta abgestempelt war.
    »Sie brauchen mich.«
    »Einen Teufel tun sie. Eine idealistische weiße Collegestudentin mehr oder weniger wird auch nichts ändern können. Sie haben Fernsehen. Bei allen drei Sendern kann man verfolgen, wie strohdumme Südstaatensheriffs auf Frauen einprügeln. Sie haben sogar Freunde in der Kennedy-Administration. Nach dem Attentat ...« Er war betrunkener, als er ahnte. Er begann Geheimnisse zu verraten. Aber das war jetzt unwichtig. »Nach dem Attentat lassen sie von Lyndon Johnson weitere Bürgerrechtsgesetze aufstellen, während die Entwicklung im Fernen Osten eskaliert. Willst du die Zukunft? Vietnam, Woodstock, Nixon, Watergate, Jimmy Carter, Ajatollah Khomeini, sämtliche Klischees, die man sich vorstellen kann, und zwar mit oder ohne Zutun von Joyce Casella. Bitte«, sagte er. »Bitte sieh zu, dass du nicht getötet wirst, ehe wir uns etwas besser kennengelernt haben.«
    »Manchmal frage ich mich, ob ich dich überhaupt kenne. Was soll dieser ganze Quatsch über die Zukunft?«
    »Von dort komme ich her.«
    Sie starrte ihn an. »Erzähl mir die Wahrheit oder verschwinde aus meiner Wohnung!«
    Er beschrieb in groben Zügen die Folge von Ereignissen, die ihn hierhergebracht hatten.
    Joyce hörte ihm aufmerksam und geduldig zu, glaubte ihm aber erst, als er seine Brieftasche hervorholte und seine Ausweise vorzeigte – seinen Führerschein des Staates Washington, seine Visa-Kreditkarte, eine nicht mehr gültige American-Express-Karte, eine Geldautomatenkarte und zwei Zehner mit einem Datum zwanzig Jahre in der Zukunft.
    Joyce untersuchte all diese Dinge sorgfältig. Schließlich sagte sie: »Deine Armbanduhr.«
    Er hatte sie seit seinem ersten Besuch nicht mehr getragen. Sie befand sich in der linken Tasche seiner Jeans. Sie musste sie gesehen haben. »Es ist nur eine billige Digitaluhr. Aber du hast recht. Die kann man hier und jetzt noch nicht kaufen.«
    Er hielt sich zurück und ließ sie in Ruhe die Dinge betrachten und darüber nachdenken. Nun, nachdem er ihr alles erzählt hatte, war er etwas nüchterner, und er fragte sich, ob er nicht einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Es musste beängstigend sein. Weiß Gott, er hatte jedenfalls eine Menge Angst gehabt.
    Aber sie betastete die Plastikkarten und

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