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Chronos

Titel: Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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denen er vom Kaufhaus zu seiner Behausung wanderte, während der Boden gefroren war und eine Mondsichel am Himmel stand.
    Er träumte diese Dinge mit einer so absoluten Klarheit und einer derart quälenden Traurigkeit, dass man beides nur im Traum ertragen konnte. Und dann sah er im Traum das Gesicht Nathans, seines Vaters.
    Er erwachte mit dem Wunsch, die Rüstung anzulegen.
    Sogar in New York City – sogar im Jahr 1962, in einer Stadt, die eine Achse darstellte, um die sich die ganze Welt drehte – war die Nacht stiller als der Tag.
    Billy entschied sich für die stillsten Stunden der Nacht, zwischen drei Uhr und dem Morgengrauen, um seine Suche zu beginnen.
    Er trug seine Rüstung, die sich an seinen Körper schmiegte. Über die Beine zog er eine weite, schmutzige Hose. Über den Deckflügel und die Halfter warf er ein zerlumptes Sweatshirt mit der Aufschrift NYU, das er in einem Trödelladen aufgetrieben hatte. Er zog die Kapuze hoch, um den Helm zu verstecken. Der Helm war verräterisch, aber er brauchte sein Sichtgerät. Über dem Sweatshirt trug Billy einen schiefergrauen zerschlissenen Mantel, der bis zu seinen Knien reichte. Den Kragen schlug er hoch.
    Ehe er die Wohnung verließ, betrachtete er sich im fleckigen Badezimmerspiegel.
    Der schwarze Helm mit seinen kalibrierten Brillengläsern, der unter der Kapuze des Sweatshirts hervorschaute, sah aus wie die Schnauze eines Tiers. Einer Ratte, dachte Billy. Irgendwie sah er aus wie eine lederartige künstliche Kanalratte, die versuchte, auszusehen wie ein Mensch.
    Irgendwie sehe ich aus wie ein Albtraum.
    Der Gedanke war beunruhigend. Er störte ihn, bis er die Lanzette der Rüstung aktivierte. Danach war alles einfach, war alles klar.
    Er hielt sich in den Schatten.
    Er stellte das Sichtgerät auf die Leuchtfrequenz des Tunnelstaubs ein. Er konnte seinen eigenen Fußabdrücken folgen – einem schwach blau leuchtenden Pfad – zurück zum Haus in der Nähe des Tompkins Square.
    In der Halle des Gebäudes herrschte ein geisterhaftes Licht.
    Doch der Eindringling war schon vor längerer Zeit hier gewesen, und es gab keine eindeutige Spur, der man hätte folgen können. Nun, so etwas hatte Billy durchaus erwartet. Es hatte seitdem geregnet; dann war Wind aufgekommen. Hinzu kam die Luftverschmutzung, der Fußgängerbereich, Tausende von Veränderungen, Manipulationen.
    Er stand auf der Straße vor dem Haus. Mattes blaues Licht schimmerte hier und da. Etwas klebte an einem Laternenmast. Andere Partikel lagen wie Schneekristalle funkelnd in der schmutzigen Gosse.
    Keine richtige Spur, nur unklare Hinweise. Undeutlich, trügerisch.
    Er blickte an dem Haus empor. Die Front war dunkel bis auf die Wohnung von Mr. Shank. In diesem Moment zog Amos Shank seinen Vorhang beiseite – offenbar plötzlich in einem wahnhaften Schub von Kreativität aus dem Schlaf gerissen, und Billy sah zu ihm hinauf. Mr. Shank erwiderte seinen Blick für einen langen, atemlosen Moment ... dann wich er vom Fenster zurück. Und die Vorhänge fielen herunter, kamen zur Ruhe.
    Billy lächelte.
    Was haben Sie gesehen, Mr. Shank? Was meinen Sie denn, wer ich bin, hier draußen in einsamer Nacht?
    Billy stellte sich vor, wie er selbst – alt und senil, versunken in einem Traum von alten Zeiten und einem Europa Napoleons – aus seiner heruntergekommenen Wohnung auf eine nächtliche Welt hinuntersähe, die ausschließlich von Monstrositäten bewohnt würde.
    Nun, dachte Billy, ich muss ausgesehen haben wie der Tod persönlich.
    Gut geraten, Mr. Shank.
    Billy lachte lautlos und wandte sich ab.
    Er entfernte sich auf einem grob spiralförmigen Kurs vom Tunnel, mied die Fifth Avenue und die Nachtschwärmer im Village und hoffte auf einen handfesten Hinweis, einen Pfeil aus blauem Licht, der ihn zu dem Eindringling führte.
    Er fand nichts dergleichen. Er fand jedoch wahllos hier und da Staub – eine größere Menge in einer Öllache an der Kreuzung Ninth Avenue und University Place, eine kleinere Menge im dürren gelben Gras vor einer Bank im Washington Square Park. Billy verharrte für einen Moment vor der Bank, aber es gab nichts weiter, nur einen vagen Hinweis darauf, dass sein Jagdwild vielleicht hier vorbeigekommen war. Er schüttelte missmutig den Kopf und beschloss, sich in südlicher Richtung zu halten, wobei er die Westseite des Parks mied, wo ein paar Prostituierte und Homosexuelle noch immer in der Dunkelheit herumlungerten. Dieser Teil des Parks war ein vertrautes Jagdrevier, wenn seine

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