Chronos
sauber und trocken; er ließ regelmäßig die eingebauten Diagnoseprogramme laufen. Aber es gab keine Möglichkeit in dieser verschwenderischen, aber technisch primitiven Epoche, irgendwelche ernsthaften Schäden zu reparieren. Schon jetzt funktionierten einige der komplizierten Mechanismen nur noch sporadisch oder gar nicht mehr. Irgendwann würden die Hauptfunktionen der Rüstung gestört sein, trotz ihrer vielfältigen Sicherungen – und Billy wäre seinem bohrenden Hunger und seinem schrecklichen Bedürfnis ausgeliefert, ohne eine Möglichkeit, dieses Verlangen zu befriedigen oder zu beenden.
Um diese Katastrophe so weit wie möglich hinauszuschieben, hatte Billy sich beigebracht, die Rüstung zu schonen, sie nur ganz sparsam zu benutzen, und dann auch nur so oft, wie sein Körper danach verlangte.
Er widerstand gerade jetzt wieder dem Drang, denn er wollte nachdenken. Er begriff, dass es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gab, diese Krise zu meistern. Es war offensichtlich, dass ein anderer Zeitreisender in die Stadt gelangt war. Aber der Zeitreisende konnte irgendjemand oder irgendetwas sein. Er oder es konnte sich für Billy interessieren oder nicht. Vielleicht kümmerte sich niemand um ihn. Vielleicht ließ dieser Eindringling ihn in Ruhe.
Die andere (und, wie Billy glaubte, wahrscheinlichere) Möglichkeit war die, dass der Zeitreisende alles über Billy und die Geheimnisse wusste, die er von der Frau mit dem Glasstück im Kopf erhalten hatte – dass der Zeitreisende ihn bestrafen oder töten wollte. Er hatte keinen Beweis dafür oder für das Gegenteil.
Der Eindringling hatte nicht versucht, seine Anwesenheit zu verbergen, und ein guter Jäger würde das doch auf jeden Fall tun, oder nicht? Es sei denn, der Jäger war so allmächtig, dass er das nicht nötig hatte.
Die Vorstellung erfüllte ihn mit Furcht.
Ich habe zwei Möglichkeiten , dachte Billy.
Weglaufen oder kämpfen.
Weglaufen war problematisch. Oh, er konnte sich in ein Flugzeug nach Los Angeles oder Miami oder London setzen. Er wusste, wie man das machte. Er konnte sich sein Leben an einem anderen Ort einrichten ... zumindest so lange, wie die Rüstung weiterhin funktionierte.
Aber er konnte nicht mit dem Wissen leben, dass sie ihn trotzdem finden könnten – die Zeitreisenden, die Tunnelbauer, die unbekannten anderen. Billy hatte nicht viel dafür übrig, seine restlichen Jahre als Jagdwild zu leben. Vorwiegend deshalb war er in New York geblieben: um den Tunnel im Auge zu behalten, um die Ausgänge zu kontrollieren.
Also musste er kämpfen.
Sicher, er wusste nicht, wer oder was der Eindringling war. Doch das war vermutlich nur eine vorübergehende Schwierigkeit. Ein großer Teil der kriminaltechnischen Funktionen seiner Rüstung war noch intakt. Billy ging davon aus, dass er eine ganze Menge in Erfahrung bringen könnte, wenn er den Tunnel auf Spuren untersuchte.
Es hing nur von der Rüstung ab, nicht wahr?
Seine Lebensader. Sein Leben.
Schließlich holte er sie aus ihrem Versteck.
Er hatte den Pappkarton gegen eine kleine Holzkiste ausgetauscht, die er in einem Trödelladen der Heilsarmee aufgestöbert hatte. Die Kiste war mit einem Vorhängeschloss verschlossen. Billy setzte viel Vertrauen in Vorhängeschlösser. Sie erschienen ihm weitaus solider als die elektronischen Schlösser seiner Zeit. Er trug den Schlüssel immer an einer Gürtelschlaufe seiner Hose. Billy hob die Kiste aus dem Wandschrank und öffnete sie.
Die Löcher, wo die Lanzette und das Stilett in seinen Körper eindrangen, waren bereits fast verheilt – der Schmerz dauerte nur ein paar Sekunden.
Er trug weite, dichte Kleidung über der Rüstung, um sie zu verbergen.
Billy wusste, wie er darin aussah. Wie ein Säufer, ein Penner. Wenn sie ihn sahen, wandten die Leute sich ab. Aber das war ja nicht unbedingt schlecht.
Unter der Kleidung regulierte die Rüstung seine Hauttemperatur, hielt ihn kühl, hielt ihn wach.
Die Rüstung war »ausgeschaltet« – sie arbeitete weit unter der vollen Einsatzbereitschaft. Aber ihre regulierenden Funktionen liefen automatisch ab. Die Rüstung überprüfte sein Blut, seine Nervenimpulse. Ein Element erzeugte künstliche Hormone und speiste sie tropfenweise in seinen Körper ein. Er war aufnahmefähig, zufrieden und zuversichtlich.
Er war wach.
Leben ist schlafen, dachte Billy. Die Rüstung ist Wachheit. Eigentlich seltsam, dass er dies in den langen grauen Zeitintervallen seines Lebens vergaß und sich immer dann daran
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