Chucks Welt
Cimaglia fängt mit dem Unterricht an (schon wieder die verdammten Stammfunktionen), aber Amys Platz ist verwaist. Im Ernst: Einen Moment lang denke ich, ich hätte mir alles nur eingebildet. Schöne Mädchen tauchen nicht einfach so aus dem Nichts auf. Nicht in meinem Leben. Aber dann taucht sie eben doch auf, nicht aus dem Nichts, sondern ganz normal durch die Tür.
»Tut mir leid, ich hab mich verlaufen«, erklärt Amy, während sie durchs Klassenzimmer huscht. Sie sieht ziemlich fertig aus und Mr Cimaglia schenkt ihr ein aufmunterndes Lächeln.
»Macht nichts. Wir fangen eben erst an«, sagt er.
Amy setzt sich und pustet die Ponyfransen aus den Augen. Anscheinend ist ihr heiß – als ob sie den ganzen Weg gerannt ist, nachdem ihr jemand gezeigt hat, wo sie hinmuss. Sie tut mir leid. Siebraucht ein Glas Wasser – und ich habe nichts als einen Haufen Stifte. So ist das in meinem Leben immer.
Was es noch schlimmer macht: Amy hat schon einen Stift. Und nicht mal den, den Wendy ihr gestern gegeben hat. Also hat sie entweder einen von zu Hause mitgebracht oder irgendjemand anderer hat ihr zwischen der Mathestunde gestern und der heute einen gegeben. Garantiert das Zweite, da bin ich sicher. Amy hat also Kontakt mit andern Leuten aus der Schule – Leuten, die bald merken werden, wie großartig und hübsch sie ist. Dann habe ich noch weniger Aussichten als die mikroskopisch kleine Chance, an die ich mich jetzt klammere. Die Zeit arbeitet gegen mich.
»Sie hat schon einen Stift gehabt, nicht zu fassen«, jammere ich Steve auf dem Heimweg von der Schule vor.
»Na ja, dieses Risiko hatten wir bei unserer Strategiebesprechung doch einkalkuliert«, gibt er zu bedenken.
Die Strategie war sowieso scheiße, das ist uns beiden klar.
»Wie wär’s mit einer Freundschaftsanfrage auf Facebook?«, schlage ich vor.
»Hmmm …« Steve kratzt sich am Kopf. »Nur wenn du scharf drauf bist, wie ein unheimlicher Stalker rüberzukommen.«
»Wieso denn?«
»Erstens hat sie keine Ahnung, wer du bist. Das wirkt unheimlich. Und jemand anhauen, mit dem du im wahren Leben nicht mal gesprochen hast? Das machen bloß Stalker.«
»Wahrscheinlich würde sie’s sowieso nicht annehmen«, sage ich. »Hat nicht mal Beth gemacht.«
»Bei mir auch nicht.«
»Was?«
Garantiert wollte Steve das nicht rauslassen.
»Wie kommst du dazu, meine Schwester anzumachen?«
»Ist schon ein paar Monate her. Weißt du noch? Wir waren beidir zu Hause und Beth hat ›Hi, Steve‹ gesagt, als sie vorbeikam. Ein Dienstag war das.«
»Weiß ich definitiv nicht mehr.«
»Ich schon. Sie hat gesagt: ›Hi, Steve.‹ Einfach so: Hi, Steve .«
»Okay, verdammt noch mal, ich hab’s kapiert. Du warst also der Meinung, diese Begegnung würde eine Freundschaftsanfrage rechtfertigen?«
»Chuck, um mich geht’s doch gar nicht. Sondern um Amy, stimmt’s?«
Steve will nur das Thema wechseln, logisch. Aber Amy hat für mich höchste Priorität.
»Stimmt«, gebe ich zu. »Es geht um Amy.«
Steves Ford Taurus kriecht mühsam vorwärts, die Reifen finden im Schnee kaum Halt.
»Machen wir noch was zusammen?«, fragt er. »Wir könnten den nächsten Schritt überlegen.«
»Keine Zeit. Ich hab einen Termin bei Dr. S.«
Seit ich letzte Woche in der Therapiestunde war, liegt mir Mom in den Ohren, ich soll wieder hingehen. War ja gleich klar, dass es darauf hinausläuft. Und auch wenn ich Mom gegenüber Theater gemacht habe, finde ich die Vorstellung, noch mal hinzugehen, gar nicht so schrecklich. Dr. S. ist ziemlich nett, könnte man sagen. Außerdem hat es was, wenn jemand Anteil an dir nimmt. Auch wenn derjenige dafür bezahlt wird.
»Wer zum Teufel ist Dr. S.?«
»Dr. Srinivasan. Die Psychiaterin. Sie meint, ich soll Dr. S. zu ihr sagen.«
»Klingt wie dieser Dermatologe von der Bushaltestellenwerbung, wenn du mich fragst.«
Da hat er leider recht.
»Egal«, sage ich, ohne darauf einzugehen. »Ich sims dir, wenn ich fertig bin.«
Danach reden wir nicht mehr viel. Keine Ahnung, woran Steve denkt, aber jedes Mal, wenn der Wagen über eine Stelle mit zusammengefahrenem Schnee holpert, höre ich die Stifte in meinem Rucksack herumkullern. Ich habe eine dunkle Ahnung, dass ich mehr brauchen werde als ein paar Kulis, um Amy für mich zu gewinnen.
D iesmal fahre ich selbst zur Praxis von Dr. S., Mom hat mir ihr Auto geliehen. Als ich ankomme, ist niemand vor mir da. Anscheinend laufen die Geschäfte mit den Irren heute nicht so
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