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Chucks Welt

Chucks Welt

Titel: Chucks Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aaron Karo
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ich eine Wichsliste führe oder nicht.«
    »Wie bitte?«
    Mir fällt ein, dass ich nicht mal Dr.   S. von meiner Strichliste erzählt habe, die jetzt schon über stolze siebzehn Monate läuft und für weitere Rekorde offen ist.
    »Nichts«, sage ich. »Ich will das Zeug nicht weiter nehmen. Und keine KVT mehr machen. Ich will bloß noch meine Ruhe.«
    Nächsten Monat bin ich mit der Schule fertig. Das ist verlockend bald. Ich möchte einfach still vor mich hin leiden und dann diese beschissene Stadt hinter mir lassen.
    »Vielleicht sollten wir eine andere Medikation in Erwägung ziehen? Es gibt eine Vielzahl von   …«
    »Wieso tragen Sie Sneakers?«, platze ich heraus und unterbreche Dr.   S. schon wieder. Ein verzweifelter Versuch, über irgendwas anderes zu reden, egal was, nur nicht über Medikamente.
    »Was?«
    »Wieso tragen Sie Sneakers? Finden Sie das nicht seltsam? Für eine Irrenärztin?«
    »Ich bin Psychiaterin.«
    »Egal. Warum tragen Sie immer Sneakers? Ist doch seltsam.«
    »Weil sie bequem sind, Chuck. Wieso trägst du denn welche?«
    Dr.   S. scheint langsam genervt.
    Ich starre auf meine roten Chucks. Und denke daran, dass sie für mich immer viel mehr gewesen sind als einfach nur Schuhe.
    »Ich hab meine Gründe«, murmele ich.

H eute ist der letzte Tag in meinem Leben, an dem ich jemals an Mathe denken werde, das schwöre ich. Es ist so weit: Der Tag der Analysisprüfung ist da und ich will nichts als ihn hinter mich bringen. Leicht wird das nicht   – und damit meine ich nicht nur den Test.
    Ich sitze in einem Klassenzimmer in der West-Lake-Grundschule, wo die Prüfung abgehalten wird. Natürlich geht es mir nicht sonderlich gut in dem unvertrauten Raum, erst recht nicht ohne Lexapro. Um es noch schlimmer zu machen, sitzt in einer Ecke Steve, der mich so weit wie möglich ignoriert, und in einer anderen Amy. Ich weiß nicht mehr, wann ich Amy zuletzt gesehen habe, denn den Unterricht bei Cimaglia gab es ja nicht mehr und ihr verdammtes Schließfach liegt so ziemlich in Sibirien.
    Das Wetter spielt in diesem Jahr verrückt und die erste Maiwoche macht keine Ausnahme   – es ist höllisch heiß. Amy dreht sich nach hinten, um mit einer Freundin zu reden (ich erinnere mich noch an Zeiten, als sie keinen kannte), und mir fällt etwas vollkommen Überraschendes auf: Sie hat Sommersprossen! Wahrscheinlich liegt es an der Sonne oder der Hitze, dass die auf einmal rausgekommen sind. Wie sonderbar, Amy so zu sehen. Ich würde ihr gern was dazusagen, ein Witzchen machen oder sie fragen, wo die herkommen, mit ihr lachen und so, aber genau wie Steve ist sie wild entschlossen, mich zu ignorieren.
    Bis die Prüfung losgeht, sind es noch zwanzig Minuten. Ich muss pinkeln. Wahrscheinlich könnte ich es noch eine ganze Weile aushalten, aber mir ist klar, dass ich dann während der Prüfung dauernd nur daran denke. Ich gehe nach vorne zur Aufsicht.
    »Wo sind die Toiletten?«, frage ich.
    »Den Gang entlang und dann nach rechts«, antwortet sie. »Aber Sie brauchen das hier dafür.«
    Sie reicht mir eine riesige schwarze Vielzweckklemme mit einem Schlüssel dran. Ein Toilettenschlüssel? Im Ernst?
    Zwangsgedanken überfluten mein Hirn: Leute, die den Schlüssel halten, die Klotür anfassen, pinkeln gehen, den Drücker für die Spülung und das Waschbecken berühren, überall nur Pisse und Kacke und Ekelzeug. Ich zögere.
    Die Aufsicht steht mit dem Schlüssel in der Hand da und fragt sich, was zum Teufel mit mir los ist. Am Ende schnappe ich mir den Schlüssel, ohne weiter nachzudenken, und renne aus dem Klassenzimmer. Draußen im Gang klemme ich mir das Ding zwischen Ellbogen und Körper, um es nicht in der Hand halten zu müssen. Vor ein paar Wochen wäre ich damit noch klargekommen. Jetzt nicht mehr.
    Ich pinkle und entwickle ein geradezu akrobatisches Talent dabei, alles, was ich anfassen muss, nur mit den Füßen oder Ellbogen zu berühren. Den Schlüssel wickle ich in Papiertücher ein und klemme ihn mir wieder an die Seite. Dann schrubbe ich mir die Hände sauber.
    Ich will die Toilette gerade verlassen, da halte ich noch mal kurz inne. Die Bedeutung dieses Augenblicks wird mir bewusst. Ich weiß nicht, ob ich für diese Prüfung gut genug vorbereitet bin. Seit dem »Vorfall« habe ich jede Beschäftigung mit Analysis vermieden, weilmich das zu sehr an Amy erinnert hätte. Aber heute muss ich gut abschneiden, damit ich im College kein Analysis mehr brauche und nie mehr im Leben eine Stammfunktion

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