Chucks Welt
geht’s doch schon viel besser! Du müsstest mitkriegen, wie gut inzwischen alles läuft. Ich mach keine Listen mehr. Ich lauf durch die Gänge, wie ich will.«
»Das ist super, Chuck. Wirklich wahr.«
»Begreifst du denn nicht? Ich mach das wegen dir. Für dich! «
»Das ist wirklich Wahnsinn«, sagt Amy. »Aber du musst das für dich machen, Chuck. Nicht für mich.«
Sie klingt wie Dr. S., wenn die ihre Vorträge hält – oder wie ich, wenn ich Steve Vorträge halte. In meinem Bauch ist ein pochender Knoten. Ich zittere. Egal wie sehr ich mich anstrenge, egal wie dringend ich es mir wünsche – was passiert ist, kann ich nicht ungeschehen machen.
»Du hast in der Mail selbst gesagt«, fährt Amy fort, »dass du noch lange brauchen wirst. Und ich schaff’s im Moment einfach nicht, mit dir irgendwas zu haben, das mehr ist als Freundschaft. Das wäre uns beiden gegenüber nicht fair. Du hast noch so viel vor dir – und ich weiß, dass du das hinkriegst –, aber ich kann mich dem allen nicht noch mal aussetzen. Das schaffe ich nicht.«
»Verstehe«, sage ich, aber ich verstehe es nicht.
Amy legt ihre Hände auf meine. Ich muss dauernd daran denken, dass wir uns beinahe geküsst hätten. Aber eines gibt es noch, was ich unbedingt sagen muss.
»Gehst du mit mir zum Abschlussball?«
Amy zieht ihre Hände zurück.
»Chuck«, sagt sie und seufzt.
»Ich weiß ja, du findest das bonzenmäßig und so, aber …«
»Ashley hat mich schon gefragt.«
Das ist wie ein Keulenschlag ins Gesicht. Einen Moment lang verschwimmt mir alles vor Augen.
»Wie meinst du das: Ashley hat dich schon gefragt?« Ich höre mich an wie eine jaulende Töle, aber das ist mir egal.
»Er hat mich vor ein paar Tagen gefragt.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Dass ich noch nicht weiß, ob ich hinwill.«
Was ist das Kleinste, das es gibt? Ein Nano-Irgendwas? So großist mein Erleichterungsseufzer. Ein nanokleiner Seufzer. Ashley will mit Amy auf den Ball gehen, aber sie hat noch nicht Ja gesagt. Das ist alles, woran ich mich im Moment festhalten kann. Wie erbärmlich.
»Du weißt ja, was ich von dem Ball halte«, erklärt Amy. »Das Campingwochenende in einem Monat, das ist was anderes, da gehe ich auf jeden Fall hin. Aber mit dem Ball weiß ich einfach nicht.«
»Ich habe gedacht, vielleicht …«
»Tut mir leid, Chuck. Ich hätte es dir sowieso irgendwann erzählt. So ist es einfacher. Wie ich dir schon bei unserm ersten Treffen gesagt habe: Ich will mich nicht so fest binden. Das tut am Ende immer irgendwem weh.«
Ich habe mir tausendmal ausgemalt, wie dieses Treffen laufen könnte, aber kein Szenario war so schlimm wie das, was jetzt passiert. Ich würde gern die Augen zumachen und mich zurückbeamen in die Zeit, als ich Amy noch nicht kannte. Da war ich super gestört, aber immerhin hatte ich kein Loch in der Brust an der Stelle, an der die Hauptschlagader und der Rest meines Herzens sein sollte.
»Hör mal«, sagt sie, »ich muss jetzt los. Ich helfe meiner Mom, noch mal Zettel aufzuhängen, dass unser Hund verschwunden ist.«
»Okay«, nuschele ich. »Dann sehen wir uns eben in Mathe.« Mein einziger Trost ist jetzt der Analysiskurs in der ersten Stunde, wo ich jeden Tag Amys Hinterkopf anstarren darf.
»Wir haben doch gar keinen Unterricht mehr, hast du das vergessen? Cimaglia gibt uns frei, damit wir mehr Zeit fürs Lernen haben.«
»Ach. Stimmt«, sage ich.
»Und nach der ersten Prüfungsrunde komme ich nicht mehr in den Kurs zurück. Ich muss in Spanisch noch was nachholen, damit ich das Examen schaffe und den Abschluss so machen kann wie vorgesehen.«
»Oh«, hauche ich beinahe unhörbar.
»Wir sehen uns schon noch mal, Chuck«, sagt sie, steht auf und greift nach ihrem Rucksack.
Bevor sie sich umdreht und weggeht, lächelt sie mich noch mal an.
Zum allerersten Mal überhaupt lächle ich nicht zurück.
S tundenlang glotze ich nur in die Luft und brauche am Ende jedes Quäntchen Willenskraft, um meinen Hintern von dem Bibliotheksstuhl zu lösen. Abgesehen davon schließt die Bibliothek jetzt, ich werde rausgeschmissen.
Eine Weile lang laufe ich in der praktisch menschenleeren Schule herum. In der ganzen Lebenszeit, die ich hier verbracht habe, hat mir dieser Ort nichts als Kummer gebracht. Ich lasse mich immer weiter treiben. Da höre ich auf einmal etwas Eigenartiges – als ob jemand um Luft ringt. Ich folge dem Geräusch, biege um eine Ecke und sehe, wo es herkommt: In einem der
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