Chucks Welt
zu Gesicht kriege. Außerdem wird mir jetzt erst richtig bewusst, dass ich mit einem dick in Papiertücher gewickelten Schlüssel unterm Arm in einer Toilette stehe. Meine Symptome holen mich schneller ein als erwartet. Ich fühle mich eingesperrt. Ich muss raus hier.
Ich schaffe es, aus dem Toilettenraum zu kommen, ohne den Türgriff mit den Händen zu berühren, lehne mich draußen gegen eine Wand und schnappe nach Luft. In solchen Momenten war sonst immer Steve da und hat mir gut zugeredet. Heute nicht. Und genau in dem Moment schaue in den Gang entlang und entdecke sie: Mom.
Kurz bin ich vollkommen verwirrt, aber dann fällt mir ein, Mom arbeitet ja hier. Ich bin in Plainville auf der Grundschule gewesen und war noch nie hier; anscheinend habe ich es deshalb nicht gleich kapiert. Auch Mom wirkt überrascht, als sie näher kommt.
»Chuck? Was machst du denn hier?«
»Wir haben hier Prüfung.«
»Ach ja, stimmt. Ein paar von den Prüfungen sind hierher verlegt worden, weil in der Highschool kein Platz mehr war.«
»Genau.«
»Wie schön, dich zu sehen. Bist du bereit?«
»Na ja, bisschen nervös.«
Seit Dr. S. sie davon in Kenntnis gesetzt hat, dass ich das Medikament nicht mehr nehme, behandeln mich Mom und Dad wie ein rohes Ei. Seltsamerweise nervt mich Mom in letzter Zeit einen Hauch weniger als sonst. Keine Ahnung, ob sie sich zurückhält oder ob ich sie unbewusst einfach mehr brauche denn je.
»Das wird alles wunderbar laufen, Liebling.«
Sie wuschelt mir durch die Haare und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Mir geht es gleich besser.
»Danke, Mom.«
»Ich muss zurück in meine Klasse – und du zeigst in der Prüfung allen, was für ein Genie du bist!«
»Okay.«
»Alles Gute und sag mir Bescheid, wie’s gelaufen ist.«
»Mach ich, Mom.«
»Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Sie geht und ich mache mich auf den Weg zurück zum Klassenzimmer. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie das Papierbündel unter meinem Arm anscheinend gar nicht gesehen hat. Oder sie hat es gesehen, aber lieber nichts dazu gesagt.
Die Prüfung läuft gut, viel besser, als ich dachte. Die Stunden, die ich Amy gegeben habe, zahlen sich für mich am Ende doch aus. Zu jedem Thema, das wir beide zusammen durchgegangen sind, fällt mir ein kleiner Wortwechsel ein, den wir hatten, oder ein Witzchen, über das wir gelacht haben, und auf die Art erinnere ich mich in allen Details an den jeweiligen Stoff. Vorsichtig linse ich zu Amy rüber, wohl in der Hoffnung, dass sie die gleiche Verbundenheit spürt. Aber es kommt nichts zurück. Steve sitzt hinter mir, also habe ich nicht die geringste Ahnung, was er so treibt.
Die Prüfung ist zum Glück in null Komma nichts vorbei – und damit hoffentlich meine gesamte Laufbahn in Analysis. Die Ergebnisse bekomme ich nicht vor Juli. Ich sehe mich nach Kanha um, denn er ist der Einzige hier, mit dem ich die Lösungen durchsprechen kann.
S eit zwei Wochen ist die erste Prüfungsrunde vorbei und an den Schließfächern unserer Klasse herrscht Partystimmung. Für alle, die College-Vorkurse belegt haben, ist die Highschool praktisch gelaufen. Und seien wir ehrlich: Denen, die das nicht getan haben, ist sowieso von Anfang an alles scheißegal gewesen. Alle reden jetzt nur noch von der Abschlussfahrt in gerade mal drei Wochen. Es gibt nur einen Menschen, der wirklich versteht, wie es mir damit geht.
Nach der Schule laufe ich in den Gängen herum und versuche, Steve zu finden. Er ist nicht an seinem Schließfach, aber sein Auto steht noch auf dem Parkplatz. Steve nimmt mich nicht mehr mit und den Schulbus habe ich verpasst, also muss ich sowieso warten, bis der spätere Bus kommt.
Schließlich lande ich in dem Gang, wo Parker Steve gegen die Schließfächer gestoßen hat. Ich wünsche mir, ich hätte damals mehr getan, aber mir ist klar, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde es wahrscheinlich genauso laufen – ich würde so gut wie nichts tun. Ich höre ein Geräusch vom andern Ende des Gangs. Nein, es ist nicht Steve, der schon wieder gewürgt wird, sondern ein Lachen. Ein abstoßendes, gackerndes, näselndes Lachen. Ichverfolge es bis zu einem Klassenzimmer, bei dem die Tür einen Spalt offen steht, und spähe hinein.
Ein Treffen des Matheteams. Steve sitzt zwischen den beiden Barrys und ist wild am Reden. Ich weiß auf Anhieb, was er da zum Besten gibt: seine Wichsgeschichte mit dem Mädchen aus Kalifornien. Die Nerds fressen ihm aus der Hand.
Steve schaut
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