Chuzpe: Roman (German Edition)
pflegte Ruth zu vertauschen. Wenn sie Kopfschmerzen hatte, dachte sie an Gehirntumore, und Anrufe spät am Abend versetzten sie unweigerlich in Panik. Selbstgeschürte Ängste und Befürchtungen, selbstverursachter Kummer, dachte Ruth, waren etwas, was Kinder von Überlebenden suchten. Es verlieh ihrem Leben eine Art Bestätigung. Erlaubte ihnen zu leben. Offenbar hatten sie das Bedürfnis, für jedes Wohlbefinden einen Preis zu zahlen. Offenbar war ihnen ein Leben mit allzuviel Glück nicht geheuer. Ruth fragte sich, wie es möglich war, so gut über diese Dinge Bescheid zu wissen und sich dennoch nicht davon befreien zu können.
Ruth ging den West Broadway entlang. Es war Samstag. Und SoHo war voller Menschen. Voller Touristen. Von überall. Es war schwierig, durch die Menschenmengen hindurchoderan ihnen vorbeizugelangen. Ruth war zumute, als wäre sie überraschend in eine Stadt geraten, die sie nie hatte besuchen wollen, als widerwilliges und entsetztes Mitglied einer Reisegruppe.
Jemand rief ihren Namen. Ruth sah sich um. Eine dunkelhaarige Frau winkte ihr energisch zu. Es war Frida Arbol. Frida wohnte zwei Blocks von Ruth entfernt. Manchmal tranken sie zusammen Kaffee. Frida war Brasilianerin. Und auffallend schön. Sie war Dokumentarfilmerin. Sie hatte mehrere erfolgreiche Dokumentarfilme gemacht. Zur Zeit arbeitete sie an einem Film über schwule chassidische Juden. Er hatte den Arbeitstitel Elender dran als die anderen . Ruth fand den Titel großartig.
»Wohin gehst du?« sagte Frida zu Ruth.
»Ich laufe nur ein bißchen herum«, sagte Ruth.
»Ich gehe bis zur Houston Street mit«, sagte Frida.
»Ich habe mir überlegt, eine Frauengruppe zu gründen«, sagte Ruth zu Frida. »Eine Gruppe von Frauen, die sich regelmäßig treffen und miteinander reden. Die über Dinge sprechen, über die zu sprechen nicht leicht ist. Zum Beispiel, wie gräßlich Frauen zu anderen Frauen sind.«
»Frauen sind schrecklich zu anderen Frauen«, sagte Frida. «So ruchlos.« Mit Fridas brasilianischem Akzent klang das Wort »ruchlos« noch viel ruchloser. Ruth versuchte sich nicht davon nervös machen zu lassen, daß »ruchlos« in Fridas Aussprache eine merkwürdige Verwandtschaft zu ihrem eigenen Namen bekam. Wörter machten sie immer schnell nervös.
»Ja, es sind immer andere Frauen, die einen entmutigen, die grob zu einem sind, die eifersüchtig und neidisch sind«, sagte Frida.
»Es ist ein Märchen, daß Frauen einander herzlich verbunden wären«, sagte Ruth. »Wenn du am Boden zerstört bist, dann sind sie dir herzlich verbunden. Wenn dein Manndich verläßt oder wenn du deinen Geliebten verlierst, deine Mutter, deinen Vater oder deinen Job, dann sind sie sofort zur Stelle.«
»Das stimmt«, sagte Frida. »Als es mir in den ersten Wochen nach meiner Trennung von meinem Mann sehr schlecht ging, riefen mich alle an. Aber als ich wieder tanzen gehen wollte, war keine einzige meiner Freundinnen bereit, mitzukommen. Und da bin ich allein tanzen gegangen!«
»Du gehst allein tanzen?« sagte Ruth.
»Ja«, sagte Frida.
Ruth fühlte leisen Neid. Sie wünschte, sie wäre ein Mensch, der sich traute, tanzen zu gehen, ganz davon zu schweigen, allein tanzen zu gehen. »Ich würde mich nie trauen, allein tanzen zu gehen«, sagte Ruth. »Ich wünschte mir, ich würde gern tanzen«, sagte Ruth.
Frida lachte. Ruth war ein wenig deprimiert.
»Ich fahre für zwei Monate nach Brasilien«, sagte Frida. »Wenn ich wieder da bin, rufe ich dich wegen der Frauengruppe an.«
Als Ruth nach Hause kam, rief sie Helene an. Sie hatte Helene seit Jahren nicht gesehen. Helene hatte ein Haus auf Shelter Island. Sie war Ende sechzig. Ruth dachte sich, daß es gut wäre, jemand Älteren in der Gruppe zu haben.
»Eine Frauengruppe?« sagte Helene. »Ich glaube nicht, daß das den Ehemännern gefallen würde.«
»Nicht alle Frauen haben Ehemänner«, sagte Ruth. »Und wen kümmert es, ob es ihnen gefällt?« fügte sie in schrofferem Ton als beabsichtigt hinzu.
»Eine Frauengruppe?« wiederholte Helene. »Was tun wir dort?«
»Reden«, sagte Ruth. »Über Dinge, über die wir normalerweise nicht sprechen.«
»Was für Dinge?« fragte Helene.
»Alles mögliche«, sagte Ruth. »Indem wir lernen, überalles mögliche zu sprechen, können wir vielleicht lernen, leichter über unangenehme Themen zu sprechen.«
»Warum sollte irgend jemand über unangenehme Dinge sprechen wollen?« fragte Helene.
Ruth und Helene verabschiedeten sich
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