Chuzpe: Roman (German Edition)
sah sie Edek, Zofia und Walentyna. Ebenfalls in Latzhosen. Und mit Staubmasken. Ruth war sprachlos. Wie vor den Kopf geschlagen. Damithatte sie nicht gerechnet. Und niemals, nicht einmal in ihren wildesten Träumen, hatte sie sich Edek in Latzhosen vorgestellt. Ruth rief, doch niemand hörte sie. Einer der Schreiner hatte eine Kettensäge in Gang gesetzt. Ruth trat auf die Straße zurück. Sie fühlte sich ein bißchen benommen. Sie sah einen großen Zettel an der Tür, der für die Telefonfirma bestimmt war. »Bitte machen Sie Krach. Wir können nichts hören«, stand auf dem Zettel. In Edeks Handschrift. Ruth ging in ihr Büro zurück.
Max betrat Ruths Zimmer. »Wir haben eben eine Sendung von der Druckerei A and B erhalten. Sie ist für Ihren Vater«, sagte Max. »Zwei Kartons, beide ziemlich schwer.«
»Ich werde meinem Vater Bescheid sagen«, sagte Ruth.
Sie rief Edek an. Er klang hektisch. »Kannst du bitte aufmachen einen von den Kartons?« sagte er. Der Karton war voller Schreibwaren. Ruth sah bedrucktes Briefpapier. Und Umschläge. »Sind auch Firmenkarten drin?« fragte Edek.
»Ja«, sagte Ruth.
»Vielen Dank«, sagte Edek. »Wir werden abholen die Kartons in ein paar Tagen.«
Bevor Ruth sich verabschieden konnte, hatte Edek aufgelegt. Zwei Minuten später rief er zurück. »Zofia hat gesagt, daß ich dich soll daran erinnern, daß du morgen zum Abendessen bei uns wirst erwartet«, sagte er.
»Ich habe es nicht vergessen«, sagte Ruth. Sie mußte sich noch immer daran gewöhnen, daß Edek »bei uns« sagte. Sie hatte die Wohnung bisher nur zweimal besucht. Sie hatte es sorgsam vermieden, öfter als nötig aufzukreuzen. Sie fand es noch immer befremdlich, Edeks Eigentum inmitten von Sachen zu sehen, die Zofia oder Walentyna gehörten. Ruth hatte peinlich darauf geachtet, keines der Schlafzimmer zu betreten.
Sie blickte in den Karton mit Schreibwaren, den sie geöffnet hatte. Er enthielt genug Briefpapier, um ein halbes DutzendMcDonald’s-Niederlassungen für die nächsten Jahre zu versorgen.
Edek rief wieder an. »Ruthie, tu mir bitte einen Gefallen«, sagte er. »Kannst du nachsehen in den Kisten, um zu sehen, ob eine von den Kisten enthält Kugelschreiber?«
»Kugelschreiber?« sagte Ruth.
»Ja«, sagte Edek. »Kugelschreiber. Kugelschreiber sind Sachen, was man braucht in jedem Restaurant, um damit zu schreiben.«
Ruth befand sich noch in der Abstellkammer. Sie öffnete den zweiten Karton. »Diese Kartons sind viel zu schwer für euch«, sagte sie zu Edek. »Ich werde sie euch vorbeibringen lassen.«
»Okay«, sagte er. »Hast du gefunden die Kugelschreiber?«
Zuoberst in dem soeben von ihr geöffneten Karton lag ein Lieferschein. Sie überflog ihn. Einer der aufgelisteten Artikel waren zweihundert Kugelschreiber mit Gravur. Edek wirkte ausgesprochen zufrieden.
Edeks und Zofias und Walentynas Wohnung sah sehr behaglich aus. Sie hatten noch mehr Fotos an den Wänden aufgehängt. Und sie hatten zwei neue Lampen und einen Vorleger gekauft. Ruth sah sich die Fotos an. Es waren Fotos von Edek und Rooshka und Fotos von ihr und Garth und eine Reihe von Fotos von Edek mit Zachary, Kate und Zelda. Es waren Fotos von Walentyna und ihrem Ehemann, einem großen, dünnen, sensibel aussehenden Mann. Und ein Foto von Walentyna mit ihrer Mutter. Und Walentyna mit zwei ihrer Schwestern und drei Nichten. Es waren Fotos von Zofia und ihrem Ehemann. Zofias Ehemann sah handfest und heiter aus. Er hielt Zofia im Arm und lächelte strahlend. Er sah aus wie ein glücklicher, wohlgenährter Mann. Auch ein Foto von Zofias Eltern hing an der Wand. Und ein Foto von Zofia und ihren beiden Brüdern. Zofia stach auf diesemFoto sofort ins Auge. Sie hatte sogar schon damals, als die meisten Mädchen Dauerwellen oder Lockenfrisuren trugen, kurze, stachelige Haare. Sie blickte keck in die Kamera. Und keck ragten auch ihre Brüste in die Kamera.
»Auf diesem Foto war ich sechzehn«, sagte Zofia vom anderen Ende des Zimmers.
»Sie haben sich kaum verändert«, sagte Ruth.
»Vielen Dank, Ruthie, Liebling«, sagte Zofia.
Ruth sah nach dem Datum am unteren Rand des Fotos. Es lautete 1952. Folglich war Zofia neunundsechzig. Ruth war verblüfft. Wie konnten neunundsechzigjährige Beine, Arme und Brüste so gut erhalten sein? Ruth ließ den Blick an ihren eigenen Körper hinunterwandern. Er sah wesentlich mitgenommener aus. Vielleicht machten Angst und Anspannung nicht nur der Psyche merklich zu schaffen. Vielleicht wurden
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