Chuzpe: Roman (German Edition)
die älteste Teilnehmerin in dem Lebensmittelkundeunterricht, den Walentyna und ich absolviert haben«, sagte Zofia. »Wir mußten eine Prüfung ablegen, um eine Bescheinigung von der Gesundheitsbehörde zu bekommen, daß wir ein Restaurant führen dürfen. Wir sind eine Woche lang jeden Tag für drei Stunden in den Unterricht gegangen. Man muß siebzig Prozent richtige Antworten in der Abschlußprüfung haben, um die Bescheinigung zu bekommen. Ich hatte neunzig Prozent, und Walentyna hatte fünfundachtzig Prozent.«
Ruth war sprachlos. Zofia und Walentyna und Edek hatten wirklich nichts vergessen. Sie hatten alle erforderlichen Genehmigungen eingeholt, um ein Restaurant zu führen. Sie hatten eine Küche, die von der Gesundheitsbehörde genehmigt war.
»Das habt ihr alles mit einem Budget von dreißigtausend Dollar bewerkstelligt?« sagte Ruth zu Edek, als sie aus der Küche zurückkam.
»Nein«, sagte Edek. »Wir haben noch fünftausend Dollar übrig.«
Ruth fühlte sich ruhig und gelassen. Beruhigt von einer neuen Serie Karten, an der sie arbeitete. Sie nannte sie die »Können wir/Darf ich«-Serie. Sie hatte den ganzen Tag in ihrem Büro verbracht und sich mit den Karten beschäftigt. Sie war nicht zum Lunch ausgewesen. Karten zu schreiben war fürRuth eine sehr friedvolle Beschäftigung. Man hatte eine Handvoll Wörter, die man hin- und herschob. Bis ihre Anordnung einem gefiel. Und hoffentlich auch anderen gefallen würde. Die Karten waren erfolgreich. Fast sechzig Geschäfte in ganz Amerika hatten die Karten in ihr Sortiment aufgenommen. Die Karten wurden in New York verkauft, in Chicago, Boston, Minneapolis, Washington D.C., New Orleans, Atlanta, Seattle, Kansas City, St. Louis und San Francisco. Sie fanden keinen reißenden, aber stetig steigenden Absatz. Die »Können wir«-Serie hatte auf der Außenseite der Karte eine knappe Frage und auf der Innenseite eine knappe Aussage.
DARF ICH LAUT SCHREIEN?
Ich liebe Dich.
KÖNNEN WIR WEITERMACHEN?
Mit unserer Liebe.
KÖNNEN WIR ZUSAMMEN LACHEN?
Für immer.
Nacheinander gelesen nahmen die Zeilen sich aus wie ein schlechtes Gedicht. Einzeln wirkten sie wesentlich bewegender. Die Serie enthielt auch eine Versöhnungskarte. Ruth war aufgefallen, daß es keine Karten für Leute gab, die in ihrer Beziehung eine Auseinandersetzung oder eine Meinungsverschiedenheit gehabt hatten. Ihre Versöhnungskarte war einfach. Ruth hoffte, daß sie nicht zu einfach war. Sie lautete:
KÖNNEN WIR MITEINANDER SPRECHEN?
Bitte.
Garth fand den Ton der Karte zu flehend. Ruth war nicht seiner Ansicht. Als sie mit Garth gesprochen hatte, war sie gereizt und müde gewesen, und sie hatte gewünscht, sie hätteihm die Karte nicht vorgelesen. Sie war es leid gewesen, allein zu sein. Ohne Garth zu sein. Über Edek und die unmittelbar bevorstehende Fleischklößchenkatastrophe nachzudenken. Sie hatte ihre Besorgnis über Edeks wagemutigen Auftritt in der Welt der Gastronomie gehegt und gepflegt. Edeks Auftritt als Verkäufer, nicht als Konsument. Als Konsument ließ Edek nichts zu wünschen übrig. Weiß Gott nicht. Doch sein Auftritt als Verkäufer mußte wohl oder übel als verpfuschtes Fiasko enden. Ruth nahm an, daß man Besorgnis nicht hegen und pflegen und Fiaskos nicht verpfuschen konnte. Besorgnis war kein Schoßtier, und Fiaskos waren das unvermeidliche Ende einer verpfuschten Sache. »Klops braucht der Mensch« stand kurz vor der Eröffnung. Und Ruth war entsetzlich besorgt. Garth sagte immer wieder, alles würde gut. Garth dachte immer, daß alles gut würde.
Ruth hätte gern mit jemandem gesprochen, der so besorgt war wie sie. Sie wollte nicht mit jemandem sprechen, der dachte, alles würde gut. Sie mußte einen Juden finden, mit dem sie sprechen konnte. Juden wußten immer, daß nie etwas gut wurde. Für einen Juden war nie irgend etwas gut. Andernfalls wäre die Person kein Jude. Juden waren genetisch dazu programmiert, herauszufinden, was nicht in Ordnung war. Das Sandwich war nicht, wie es sein sollte. Die Suppe war zu wenig gesalzen. Die Portion war kleiner als sonst. Das Wetter war zu warm oder zu kalt oder zu feucht oder zu trocken. Die Klimaanlage war zu niedrig oder zu hoch eingestellt. Das Publikum war zu groß, oder es waren zu wenig Leute da. Die Liste der Mängel und Makel und Schönheitsfehler und Klagen war schier endlos. Und anstekkend. Wenn ein Jude einen anderen Juden nörgeln hörte, stimmte er sofort in das Genörgel ein. Selbst Juden, die kurzfristig
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