Chuzpe
Hoch-Rufe auf die sozialistische Republik und auf den Sozialismus. An beiden Auffahrten zur Rampe kam die Menge in Bewegung, und Männer, die Bronstein der Roten Garde zuordnete, kamen auf die Vertreter der Regierung zu.
„Jetzt wird’s brenzlig“, sagte Bronstein zu sich. Er wandte sich an die neben ihm stehenden Parlamentsbediensteten: „Die Regierung sollte sich wieder ins Haus zurückziehen, das wäre wahrlich klüger.“ Doch er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als Präsident Seitz das Wort ergriff. Selbst Bronstein, der nur wenige Meter von ihm entfernt stand, konnte kaum etwas von der Rede des neuen roten Parteichefs vernehmen, sie ging im allgemeinen Lärm fast vollständig unter. Dies erkannte nun auch die politische Kaste. Seitz beendete sein Tun abrupt, und wie auf ein Kommando wandten sich die Würdenträger wieder dem Eingang zu. Die Masse freilich strömte ihnen nach. Die Rotgardisten waren mittlerweile bis auf wenige Schritte an die Regierung herangekommen und drängten gleich ihnen ins Parlament. Der neue Heeresminister trat ihnen entgegen und versuchte, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Bronstein verfolgte die Szene mit bangem Herzen, während ein Parlamentsvertreter die Anweisung gab, die Rollläden vor den Fenstern herunterzulassen. Bronstein hatte auf diese Anordnung gar nicht geachtet, da sie ihn nicht betraf, aber nur wenige Sekunden später fuhr er erschreckt zusammen. Langsam senkte sich der Wetterschutz über die Maueröffnungen, und der Ton, der dabei entstand, erinnerte ihn frappant an MG-Feuer. Nicht nur ihn, wie er sogleich feststellen konnte. „Sie schießen auf uns! Aus dem Parlament wird auf das Volk geschossen!“, schrieein Rotgardist, und die von Bronstein lange schon befürchtete Panik brach aus. Während die einen versuchten, auf den Ring zu flüchten, wollten die anderen ins Gebäude eindringen, das mittlerweile von der Wache versperrt worden war. Bronstein war vom Ablauf der Ereignisse überrumpelt worden und befand sich nun mitten unter den Kommunisten, die damit begannen, das Tor einzuschlagen. Holz splitterte, Glas zerbrach, Ornamente fielen zerschellend zu Boden. Endlich gab das Schloss der Hauptpforte nach, die Flügel der Tür krachten lautstark gegen die Wände, und eine Menge von mehreren Dutzend Mann ergoss sich in das obere Vestibül, Bronstein mitreißend.
Einzelne Gardisten brachten ihre Gewehre in Anschlag und rückten in Angriffsformation vor. Die Regierung hatte sich mit dem Gros der Abgeordneten in den Sitzungssaal geflüchtet, wo sie sich nun von den Kommunisten belagert sah. Seitz ließ einen Parlamentswachebeamten eine weiße Fahne schwenken und verlangte ein Parler. Tatsächlich begaben sich nun einige der Anführer der Rotgardisten in den Sitzungssaal. Bronstein war ihnen gefolgt und ließ sich schwitzend und erschöpft auf einem Abgeordnetensitz nieder, um die weitere Entwicklung von dort aus zu verfolgen. Die Kommunisten sagten dem Präsidenten auf den Kopf zu, dass sie aus dem Parlament beschossen worden seien und daher verlangten, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen würden. Seitz stellte dies, soweit Bronstein ihn verstehen konnte, in Abrede, worauf die Kommunisten darauf bestanden, das Haus nach Waffen abzusuchen. Ohne zu zögern sicherte Seitz ihnen das zu, betonte aber, dass er ihnen sein Ehrenwort gebe, dass im Parlament keine Waffen zu finden seien. Die Kommunisten begannen zu schwanken. „Ihr Wort genügt uns“, sagte schließlich einer von ihnen und gab das Kommando zum Rückzug.
Bronstein atmete auf. Die Gefahr schien endlich gebannt. Er hatte seine Aufgabe erfolgreich gemeistert, keinem Politikerwar ein Haar gekrümmt worden. Doch noch fühlte er sich nicht vollends beruhigt. Schwerfällig erhob er sich wieder und folgte den Kommunisten zurück ins Vestibül. Je näher er dem Ausgang kam, desto lauter wurde der Lärm, der von draußen ins Innere des Gebäudes drang. Bronstein brauchte keine allzu große Phantasie, um zu erahnen, was dort vor sich ging. Die Republik war geboren worden, aber sie besaß offensichtlich eine schreckliche Nachgeburt.
Endlich verließen die letzten Rotgardisten das Haus: „Unsere Stunde ist noch nicht gekommen“, ließ sich einer von ihnen vernehmen, „aber sie wird kommen. So viel ist sicher.“ Als Bronstein wieder ins Freie trat, prallte er entsetzt zurück. Die Rote Garde, die eben noch die Nationalversammlung belagert hatte, war nun ihrerseits von republikanischen
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