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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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Volkswehr-Einheiten umzingelt. Abermals fielen Schüsse, die Panik steigerte sich neuerlich, und Bronstein sah, wie vor seinen Augen ein Mann buchstäblich erdrückt wurde. Er schrie noch einen Augenblick gellend auf, dann verdrehte er mit einem entsetzlichen Röcheln die Augen, um schließlich schlaff und tot zwischen der Säule und der hin- und herflutenden Menge eingekeilt zu hängen. Haarscharf flog ein Querschläger an Bronsteins Brust vorbei, um sich mitten in die Stirn eines Parlamentswächters zu bohren, der mit einem seltsam anrührenden „Oh“ verschied. Die Volkswehr ließ sich nun nicht länger zurückhalten, und sie setzte zum Sturmangriff auf die Rote Garde an, die immer noch damit beschäftigt war, sich einen Weg auf den Ring zu bahnen. Es entstand ein großer Tumult, der Bronstein an das Hauen und Stechen in früheren Kriegen erinnerte. Zu seiner Überraschung folgten den Soldaten einige Einheiten der Wiener Polizei, die mit Stöcken, aber auch mit Säbeln, auf die Menge eindroschen. Immer wieder spritzte irgendwo Blut aus einer Wunde, und Bronstein wusste nicht länger, wohin er sich wenden sollte. In ihrer Angst sprangeneinige Menschen über die Brüstung und blieben unten mit gebrochenen Armen, Beinen oder Rippen liegen, um einen Moment später zu Tode getrampelt zu werden. Bronstein vermochte nicht länger zuzusehen, zu viele Menschen hatte er in solchen Augenblicken schon sterben sehen. Die Rote Garde versuchte, sich ihrer Verfolger zu erwehren, doch diese waren nicht nur in der Überzahl, sie waren auch besser ausgerüstet, und so geriet das revolutionäre Element mehr und mehr in die Defensive.
    Die Kontingente der Roten Garden begannen zurückzufluten, verfolgt von Polizei und Volkswehreinheiten. Immer noch fielen vereinzelt Schüsse, doch für jeden Beobachter war nun klar, dass die Republikaner das Momentum auf ihrer Seite hatten. Bronstein sah, wie links und rechts der Rampe Kommunisten verhaftet und dabei nicht selten auch misshandelt wurden. Der Rotschopf, der sich da eben noch einem Zugriff entziehen konnte, erschien ihm nur allzu bekannt. Sofort kam Leben in Bronstein. Ohne auf die chaotischen Zustände rund um ihn zu achten, hetzte er an Herodot und Thukydides vorbei, drängte einige Männer achtlos zur Seite und erreichte die Gruppe um Jelka just in jenem Augenblick, da sie von zwei Volkswehrlern gehalten wurde, während ein dritter sich anschickte, Jelka die Faust in den Magen zu graben.
    „Sofort aufhören!“, schrie er mit donnernder Stimme und hielt dabei seine Kokarde in die Luft. Der Schläger hielt mitten in der Bewegung inne. „Diese Person da ist eine überaus gefährliche Aufwieglerin. Wir sind schon lange auf der Suche nach ihr. Das ist ein Fall für die Polizei, Ihre Dienste sind daher nicht länger erforderlich, meine Herren!“ Bronstein drängte einen der Häscher ab und fasste nach Jelkas Oberarm, um sie von der Szene zu ziehen.
    „Dürf’ ma s’ ned wenigstens a bisserl verprügeln?“, fragte der Schläger beinahe bittend.
    „Von mir aus gern“, antwortete Bronstein, „aber erst, wenn wir mit ihr fertig sind. Das heißt, wenn dann noch was über ist von ihr.“
    Die Replik schien die Sozialdemokraten zufriedenzustellen, und sie gaben Jelka, wenn auch langsam und murrend, frei. Bronstein drehte Jelka um 180 Grad um und schob sie vor sich her zum Ring. Auch dort herrschte überall der reinste Tumult, doch irgendwie gelang es ihm, Jelka in den Volksgarten zu bugsieren, wo die Lage entschieden weniger brenzlig war. Jetzt erst wagte er, sie anzusehen: „Wir müssen schauen, dass wir hier wegkommen. Die sind völlig narrisch worden. So, wie die in Rage sind, sind die imstand und bringen euch um.“
    „Aber die Revolution! Ich kann doch nicht …“, mühte sich Jelka halbherzig um Widerspruch.
    „Vergiss des für den Augenblick“, schnitt Bronstein ihr das Wort ab, „als Märtyrerin nutzt du niemandem, nicht einmal deiner Partei.“
    Tatsächlich brauchte es nicht viel, um Jelka von der Richtigkeit der Bronstein’schen Argumentation zu überzeugen. Die Enttäuschung über den fehlgeschlagenen Versuch, eine sozialistische Republik zu errichten, war dem Schock ob der drohenden Misshandlung gewichen, und so ließ sie sich widerstandslos zum Graben führen. Als Bronstein dort ein einsames Taxi stehen sah, zögerte er nicht lange. Er wuchtete Jelka in den Fond des Wagens und nannte dem Fahrer ihre Adresse als Fahrziel. In der einsetzenden Dämmerung erreichten

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