Chuzpe
jene Teile des Volkes, die durch die Fährnisse des Wirtschaftssystems zu einem unsteten Wanderleben gezwungen waren. Doch genau das soll nun ja anders werden. Ihr werdet das aktive und passive Wahlrecht erhalten, und mit den Restriktionen soll es auch vorbei sein. Wer kann da also noch von Klassenherrschaft reden?“
Jelka sah Bronstein mit einer Mischung aus Verwunderung und Mitleid an. „Du siehst anscheinend wirklich die größeren Zusammenhänge nicht. Im Augenblick ist der Kapitalismus auf das Schwerste verwundet. Es bedürfte nicht viel, und der Drache wäre endgültig niedergerungen. Doch anstatt ihm den letzten, entscheidenden Streich zu versetzen, päppelt die Sozialdemokratie ihn wieder hoch. Glaube mir, das wird sich noch bitter rächen.“
Bronstein holte Luft, um ihrer Argumentation etwas entgegenzuhalten, als sie auch schon fortfuhr: „Wenn der Kapitalismus sich von diesen Verletzungen erholt hat, wird er schreckliche Rache üben. Er wird von revolutionärem Schutt reden, der weggefegt gehört, und er wird die Reformen der Sozialdemokratie Schritt für Schritt beseitigen. Dann wird es keine Pensionen mehr geben, zumindest keine, die man bei einem normalen Arbeitsleben noch erreichen kann. Dann wird das Gesundheitssystem wieder nur noch für jene da sein, die es sich mit barer Münze leisten können. Dann wird nicht mehr allen Arbeit und Brot gerüstet stehen, sondern es wird ein Kampf um jeden Arbeitsplatz beginnen, und die Arbeiter werden sich vor der Zeit zu Tode schuften müssen. Es wird vorbei sein mit der Solidarität und der Brüderlichkeit, und die Gewerkschaftwird von ihren Gegnern nur noch milde belächelt werden. Die übelsten Ausbeuter werden sich schamlos am Staat bereichern, und jeder Widerstand gegen dieses üble Treiben wird durch den staatlichen Repressionsapparat im Keim erstickt werden.“
„Siehst du wirklich so schwarz?“ Bronstein versuchte, Jelkas wahre Stimmung zu ergründen. Sie warf den Kopf zurück, atmete kurz durch und setzte dann mit ihrer Philippika in unverminderter Entschlossenheit fort: „Wenn die Bourgeoisie jetzt nicht in die Knie gezwungen wird, wird sie morgen das Volk in die Knie zwingen. Und ihr Triumphgeheul wird uns Ausgebeuteten infernalisch in den Ohren klingen. Ja, wir werden die Hölle auf Erden erleben, und die Erkenntnis, es eigentlich besser gewusst zu haben, wird uns dabei mehr Fluch als Trost sein. Und genau darum dürfen wir jetzt in der Stunde der Entscheidung nicht abseits stehen, denn genau dieser Fehler würde sich im Wortsinne als fatal erweisen.“
Bronstein fühlte sich müde. Es war ja gut und nett, was Jelka da zu erzählen wusste, und auf ihre Weise mochte sie vielleicht sogar recht haben. Aber er war nun einmal der Polizeimajor David Bronstein, und die großen Zusammenhänge des Weltenlaufes kümmerten sich nicht um seine Sicht der Dinge. Es mochte egoistisch sein, doch ihm war das eigene Glück im Kleinen letztlich doch näher als jenes einer Klasse, zu der ihm eigentlich jedweder Zugang fehlte. „Jelka“, sagte er, „ich will nicht streiten mit dir. Für mich heißt Demokratie, dass jeder seine Meinung haben darf und sagen soll, was er denkt. Ich respektiere deinen Standpunkt, aber ich fürchte, ich werde ihn nie in dem Ausmaß teilen können, wie du es wahrscheinlich für erforderlich erachtest. Seien wir doch froh, dass der heutige Tag nicht so böse endet, wie er hätte enden können. Komm, trinken wir noch etwas und machen wir uns dann einen schönen Abend.“ Dabei bemühte er sich um einen lockenden Blick.
Jelka, die eben noch mitgerissen von ihrer eigenen Agitation gewesen war, musste gegen ihren Willen schmunzeln. Sie schmiegte sich an Bronstein, und ihre Hände begannen über seine Oberarme zu streicheln. Sie hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf den Hals und fuhr dann leise mit ihrer Rede fort: „Weißt du, Republik, das ist nicht viel. Sozialismus muss unser Ziel sein. Im Gegensatz zu jenen Parteien, die dieses hehre Wort missbrauchen und nur der herrschenden Klasse in die Hände arbeiten, wollen wir für die volle Freiheit des Proletariats kämpfen.“ Bronstein spürte mehrere Küsse an seiner Wange, seinen Ohren und seiner Stirn. „Wir wollen eine Partei sein, die ein klares Programm hat, die geschlossen und einheitlich zusammengesetzt ist im Geiste und in ihrem Willen.“ Jelkas Hände wanderten auf Bronsteins Oberkörper. „Eine Partei mit einem klaren Ziel und einem entschlossenen Willen.“ Schon hatten
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