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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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die Möglichkeit, sagte er sich. Da waren es noch weit mehr als zwei Stunden bis zur avisierten Ausrufung der Republik, und dennoch war der Platz vor dem Parlament bereits überfüllt. Man konnte über den Wiener sagen, was man wollte, aber bedeutende Momente, ob im Guten oder im Schlechten, ließ er sich nie entgehen.
    „Des wird was werden heut“, hörte er einen Parlamentswächter zu seinem Kollegen sagen. „Ja, wenn des nur gut eht.“ Fraglos hatte der Mann recht. Bronstein versuchte die Zahl der hier Versammelten zu schätzen. Es mochten bereits um diese Stunde weit mehr als 10.000 Personen sein, eine Menge, die sich bis zum Beginn des Festakts sicher noch verdrei- oder gar vervierfachen mochte. Vor allem, so fiel ihm auf, war weit und breit keine Polizei zu sehen. Wer würde diese Masse bändigen, wenn sie aus irgendeinem Grund in Panik geriet? Und immer noch strömten von links und rechts weitere Menschen in die Menge hinein. Von der Oper näherte sich ein mächtiger Zug,der zahlreiche Banner mit sich führte. Anhand der Farbe der Transparente und der auf ihnen befindlichen Losungen kam Bronstein zu dem Schluss, es musste sich um Sozialdemokraten handeln, und die Szenerie erinnerte ihn an die machtvollen Wahlrechtsdemonstrationen, welche die Sozis gut zehn Jahre zuvor regelmäßig abgehalten hatten. Tatsächlich erkannte er nun einzelne metallene Schilder, auf denen römische Zahlen aufgemalt waren, welche die einzelnen Bezirksorganisationen der Partei voneinander schieden. Solche Schilder waren auch damals mitgeführt worden, und wer vermochte zu sagen, ob es nicht sogar dieselben waren, welche die Funktionäre zu diesem Zweck wieder ausgemottet hatten.
    Die Schaulustigen begannen, erhöhte Positionen zu erklimmen, kletterten auf Straßenlaternen, Säulen und Zäune, um solcherart einen besseren Überblick zu haben. Bronstein wurde es mulmig, und er war froh, nur für die Mandatare im Inneren des Gebäudes verantwortlich zu sein. Er drehte sich um und verschwand wieder im Parlament.
    Die Zeit verging quälend langsam. Als Bronstein den Sitzungssaal betrat, war noch kein einziger Abgeordneter zu sehen. Nur einige Parlamentsstenographen bereiteten sich auf ihre Arbeit vor. Dem Major stach die Uhr oberhalb des Präsidiums ins Auge, die gleichsam vom Doppeladler samt Kaiserkrone bewacht wurde. Was für eine Symbolik. Bronstein trat wieder aus dem Saal ins Couloir und zündete sich eine Zigarette an. Er kam sich vor wie im Wartezimmer eines Arztes, da schien auch stets die Zeit stillzustehen. Zwei weitere Zigaretten später war es endlich 15 Uhr, der Zeitpunkt, zu dem die Sitzung der Nationalversammlung beginnen sollte. Doch immer noch war der Saal beinahe gähnend leer. Links außen saßen einige Sozialdemokraten, in der Mitte nahmen die ersten Deutschnationalen Platz, und der rechte Rand, der für die Christlich-Sozialen gedacht war, sah sich noch völlig unbesetzt. Allmählichfragte sich Bronstein, wie es die Abgeordneten bewerkstelligen wollten, das Gesetz über die Republikwerdung zu beschließen, wenn schon der Zeitpunkt ihrer geplanten Ausrufung herannahte. Endlich erklomm Dinghofer das Präsidium, und als wäre dies das verabredete Zeichen gewesen, strömten nun die Repräsentanten der Parteien ins Plenum und nahmen Platz. Als Dinghofer das Glockenzeichen gab, sah Bronstein automatisch auf die Uhr: 19 Minuten nach 3.
    Erneut wurde er an seinen Vater erinnert, da der Präsident mit einem Nachruf auf Victor Adler begann. Bronstein hatte den gesamten Bereich im Blick und kam zu dem Schluss, dass hier vorläufig mit keinerlei Problemen zu rechnen war. Die Polittiraden konnte er sich also, so meinte er, ersparen. Tatsächlich trat nun der Staatskanzler an die Rostra und begann, das Gesetz über die Staatsform des Landes wortreich zu erläutern. Als der Kanzler ein fanatisches „Heil unserem deutschen Volke, Heil Deutsch-Österreich“ ausrief, verdrehte Bronstein die Augen. Diese Politiker! Sie hatten nichts aus dem Kriege gelernt. Wozu immer dieses Pathos? Konnte das die Menschen ernähren? Konnte es das Leid und die Not lindern? Konnte es den Menschen Arbeit und eine Perspektive für ihre Zukunft geben? Es war leicht, als Regierungschef solche Phrasen zu dreschen, vor allem, wenn man eben im Parlamentsrestaurant fein getafelt hatte.
    Aber bitte, die Menschen brauchten diese Emphase offensichtlich, denn nicht nur die Abgeordneten erhoben sich applaudierend von den Plätzen, die Galerie tat es ihnen

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