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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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gleich. Wiewohl laut Geschäftsordnung jede Kundgebung seitens der Zuhörer verboten war, hatte keiner der Politiker ein Problem damit, bejubelt zu werden. Und da offensichtlich bekannt war, dass vor dem Hause zehntausende weitere Menschen warteten, wurde eilig der Antrag gestellt, die Vorlage ohne Debatte zur Abstimmung zu stellen, was auch prompt geschah. Niemandhatte gegen die Vorlage gestimmt. Binnen weniger Minuten war aus dem Rest der Monarchie eine Republik geworden, und der Präsident schloss die dritte Sitzung der Nationalversammlung. Sie hatte gerade einmal 25 Minuten gedauert.
    Nun kam wieder Bewegung in die Mandatare. Und damit auch in Bronstein. Als er wieder die Rampe betrat, konnte er immer noch keinen Kollegen erspähen. Es war ja schön und gut, dass seine Zuständigkeit formal an dieser Pforte endete, doch das würde ihm kaum ein Disziplinarverfahren ersparen, wenn den Herren Präsidenten und Ministern nun ein Leid zugefügt werden würde. Der Major spürte, wie er trotz des trüben Wetters zu transpirieren begann. Das konnte doch unmöglich wahr sein! War er wirklich der einzige Polizist weit und breit? Gab es nicht einmal jemanden, mit dem er sich in diesem heiklen Moment absprechen konnte? In seiner Ratlosigkeit trat er an die beiden Vertreter der Parlamentswache und stellte sich ihnen vor.
    „Soll das wirklich heißen, dass wir hier ganz alleine sind?“, fragte er mit einer erkennbaren Aufregung in der Stimme.
    „Ja“, nickte einer, „a Wahnsinn, ned! Aber die Roten haben g’sagt, sie haben alles im Griff. Drum san mir do jetzt allanig.“
    Bronstein wurde schwindlig. Es mochte ja sein, dass die Ordner der Sozialdemokratie einen Demonstrationszug unter Kontrolle halten konnten, der sich konstant von einem Ort zum anderen bewegte. Aber eine Masse wie diese, die mittlerweile sicherlich auf 50.000 Personen angewachsen war, die konnte niemand kontrollieren, das war völlig ausgeschlossen. Und schon traten die Spitzenrepräsentanten des neuen Staates ins Freie.
    Die erwartungsvolle Ruhe der versammelten Menge beruhigte Bronstein in keiner Weise. Da und dort sah er Transparente auftauchen, die eine sozialistische Republik forderten, und aus seinen Gesprächen mit Jelka ahnte er, dass diesem Teil derAnwesenden das hohle Pathos eines Karl Renner nicht genügen würde. Schon gar nicht der monotone Singsang, der eben aus dem Munde des Präsidenten Dinghofer kam. Wie Bronstein es erwartet hatte, stießen die Worte des Präsidenten weitgehend auf Unverständnis. Sie wurden nur von seiner nächsten Umgebung verstanden, und Bronstein war sich sicher, dass er von der anderen Seite der Ringstraße weder gesehen noch gehört wurde. Am besten, so dachte er, wäre es, wenn man die ganze Scharade schnellstmöglich über die Bühne brachte, um die Lage nicht eskalieren zu lassen.
    Und als wäre auch den Politikern bewusst geworden, auf welchem Pulverfass sie saßen, trat Dinghofer zur Seite und überließ es dem Staatskanzler, die Republik formal zu verkünden. Auf sein Zeichen hin sollte die neue Landesfahne gehisst werden, das alte Rotweißrot der Babenberger, doch nur allzu bald war zu erkennen, dass es dabei irgendein Problem gab. Trotz des mehrmaligen Wiederholens der diesbezüglichen Aufforderung war kein Fahnentuch hochgezogen, vielmehr schien es rings um die Masten einen Tumult zu geben, und Bronstein wollte instinktiv hinuntereilen, um sich direkt am Ort des Geschehens ein Bild zu machen. Doch er sah sich derart in die Menge eingekeilt, dass er kaum einen Meter vorwärtsgekommen war, ehe er resigniert von seinem Vorhaben Abstand nahm. Mit Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass das Problem anscheinend in der Zwischenzeit gelöst worden war, denn endlich wurden die Fahnen über den Häuptern der Menge sichtbar. Der Wind erfasste sie, und sie begannen zu flattern. Als Bronstein glaubte, sich wenigstens für einen Moment entspannen zu können, zuckte er neuerlich zusammen. Die Fahnen waren einfärbig rot. Offenbar war es den Kommunisten gelungen, die Farben der Republik gegen jene der Revolution auszutauschen, und so zog die Regierung nun die Banner ihrer Gegner auf. Der Major war nicht der Einzige, der von Nervosität erfasst wurde.Dinghofer versuchte die Situation zu retten und brachte Heil-Rufe auf die Republik aus, die jedoch in einem Pfeifkonzert der Menge untergingen. Das versammelte Volk schien plötzlich samt und sonders aus Kommunisten zu bestehen, denn zu den Pfui-Rufen gesellten sich

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