Chuzpe
Themenwechsel. Er schenkte daher dem Hinweis, dass sich in Böhmen deutschsprachige Politiker um die Errichtung eines neuen österreichischen Bundeslandes bemühten, keine sonderliche Aufmerksamkeit mehr. Davon hatte er bereits am Vortag in der Zeitung gelesen. Die böhmischen Abgeordneten deutscher Zunge hatten vier neue Gebiete konstituiert, Deutschböhmen, das Sudetenland, den Böhmerwaldkreis und den ZnaimerKreis, die sich gemäß dem proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker Österreich anschließen wollten. Doch die Tschechen hatten dieser Initiative am 4. November einen Riegel vorgeschoben, sodass wohl auch diese Gebiete für den Staat verloren waren. Ein wenig wehmütig dachte Bronstein an frühere Aufenthalte in Reichenberg, Aussig und Teplitz-Schönau, an seine Kuren in Marien-, Franzens- und Karlsbad sowie an Ausflüge nach Znaim, Krummau und Budweis zurück. All das würde für ihn nun wohl ebenso Ausland sein wie Abbazia, Krakau und Triest.
Genug Trübsal geblasen, konzentrier dich gefälligst, schalt sich Bronstein. Er ergriff den nächsten Akt und wurde endlich fündig. Das Bezirkskommissariat Margareten hatte einen Mordfall an das Präsidium abgetreten, der auf diesem Wege auf Bronsteins Schreibtisch gelandet war. Am Abend des 6. November war in einem Handwerksbetrieb in der Redergasse die Leiche einer etwa zwanzigjährigen Frau gefunden worden, die offenbar erwürgt worden war. Da die Gewaltanwendung offenkundig gewesen sei, trete man die Angelegenheit an die Mordkommission ab, hieß es in dem Bericht des Revierinspektors, der den Fall aufgenommen hatte. Der Akt war mehr als dünn. Auf knapp eineinhalb Seiten wurde der Fundort der Leiche beschrieben, weitere zwanzig Zeilen waren der Toten selbst gewidmet. Nichts davon war auf den ersten Blick irgendwie brauchbar. Weder war ausgeführt, wer die Tote gefunden hatte, noch, ob bereits seitens des Bezirkskommissariats irgendwelche Erhebungen durchgeführt worden waren. Nicht einmal der derzeitige Aufenthalt der Toten wurde erwähnt. Hatte man sie in die Gerichtsmedizin gebracht, wie es in solchen Fällen eigentlich angezeigt war? Bronstein beschloss, einmal beim Chef der dortigen Abteilung nachzufragen. Er hob den Hörer aus der Gabel und gab dem Fräulein von der Vermittlung seinen Wunsch durch. Wenig spätermeldete sich Ferdinand Strakosch, die Institution der heimischen Gerichtsmedizin, höchstselbst.
„Grüß dich, Strakosch, Bronstein hier.“
„Ja servus, was verschafft mir das Vergnügen?“ „Sag, habt ihr gestern eine Zwanzigjährige hereinbekommen, die erwürgt worden ist? Ein Fall aus Margareten?“
„Die? Ja, die liegt bei mir am Tisch. Und soll ich dir was sagen: Sie ist erwürgt worden!“
„Lass die G’spasettln, Strakosch. Was kannst du mir wirklich über die Sache sagen?“
„Du wirst es ned glauben, ned viel. Da hat einfach jemand seine Händ’ g’nommen und so lang zugedrückt, bis das Fräulein die Patschen g’streckt hat.“
„Das heißt, die Tatwaffe sind die Hände des Täters?“
„So ist es. Und ich kann dir weiters verraten, dass sich die Frau ned sonderlich g’wehrt hat. Es sind sonst am Körper nämlich keinerlei Blessuren oder gar Hämatome. Das Einzige, was sonst noch auffällig ist, ist der Umstand, dass die Frau schwerst unterernährt war. Wir haben sie vermessen und gewogen. Bei 160 Zentimetern Körpergröße wog sie zum Zeitpunkt des Todes gerade einmal 42 Kilo. Die wär ned über den Winter kommen.“
„Strakosch, ich liebe deine Feinfühligkeit.“
„Ja, genau. Dafür werd ich ja bezahlt.“
„Gibt’s wenigstens irgendwelche Schlüsse, die man aus den Würgemalen ziehen kann?“, fragte Bronstein mit einem Hauch Resignation in der Stimme.
„Ja. Der Täter muss mordstrum Klebeln haben. So wie dieser eine persische König da, der, wie hat er noch g’heißen?“
„Makrocheir. Artaxerxes I.“
„Genau. Hände wie Klodeckel. Aber das hilft dir auch nicht weiter, weil deswegen muss der Mann selbst nicht übergroß sein.“
„Und wann ist der Tod eingetreten?“
„Tja, da kann ich dir auch nicht helfen. Wir haben sie gestern am Nachmittag reingekriegt, da war sie schon sicher eine ganze Weile tot. Aber an der haben vor uns so viele herumgedoktert, dass eine präzise Aussage nur noch anhand des Mageninhalts möglich wäre. Aber so, wie die ausschaut, hat die seit Tagen nichts Festes mehr zu sich genommen.“
„Aber sie ist sicher nicht schon wochenlang dort gelegen,
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